Die Überzähligen

Ein kleines Hamburger Museum schrieb vier Minijobs aus und handelte sich damit über 1.000 Bewerbungen ein. Die Sichtung dauerte zwei Monate, dann kamen die Absagen. Zu den Verlierern gehörte ein Schlachter. Und eine Kunsthistorikerin

von Andrea Mertes

„Hamburger Museum sucht Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter für Empfang und Kasse/Shop.“

Es war eine kleine Anzeige im Stellenmarkt, vielleicht zwei Zentimeter hoch. Und doch hat sie eine Menge ausgelöst. Es ging um Minijobs, auf 400 beziehungsweise 800 Euro-Basis. Ausgeschrieben in einer Chiffreanzeige. Das Hamburger Museum wollte im Hintergrund bleiben und nicht von Anrufen überrollt werden. Wie sich herausstellen sollte, war das eine sehr kluge Überlegung. Und darum bleibt es auch in dieser Geschichte einfach nur „ein Hamburger Museum“.

Vier Mitarbeiter wurden damals gesucht. Über 1.000 Menschen haben sich gemeldet. 1.000 Bewerbungen, das bedeutet: jeden Tag ein Stapel Bewerbungsschreiben in der Größe eines Umzugskartons auf dem Tisch. Das bedeutet auch: 1.000 Menschen, die ihr Leben offenbaren. Die Zeugnisse über ihre Qualitäten als Arbeitskraft schicken, in Briefen davon erzählen, warum sie dringend einen Job brauchen. Dass sie schon lange arbeitslos sind und nach einer Aufgabe suchen. Dass sie allein erziehend sind und nicht wissen, wie sie ihre Familie durchkriegen sollen.

Es haben sich Ingenieure beworben und Hausfrauen, Langzeitarbeitslose und Schüler, Kulturmanager, Fliesenlegermeister und auch zwei Rechtsanwälte. Die 1.000 Menschen haben nicht gewusst, wem sie da soviel Persönliches aus ihrem Leben berichten. Die Zahl der Menschen, die nach jedem Rettungsanker greift, scheint groß geworden zu sein.

„Ich sehe das positiv“, sagt Knut Böhrnsen, Pressesprecher der Hamburger Agentur für Arbeit. „Wir regen die Leute an, dass sie jede Möglichkeit nutzen, um in einen Job zu kommen. Sie sollen versuchen, wieder im Berufsleben Fuß zu fassen, und jede Bewerbung als Türöffner sehen.“

Nicht umsonst gehört es zum Konzept der Agentur, mit Arbeitslosen eine gewisse Anzahl an Bewerbungen zu vereinbaren, die monatlich geschrieben werden müssen. Wird die Vorgabe nicht erfüllt, wird das Arbeitslosengeld gekürzt. Niedergelegt ist dieses Verfahren in den so genannten „Eingliederungsvereinbarungen“, die wiederum im Zweiten Sozialgesetzbuch zu finden sind.

Demnach muss der „erwerbsfähig Hilfebedürftige“ Bemühungen unternehmen, um Arbeit zu finden, und diese auch nachweisen. Stellt sich die Frage: Wann gehen einem Jobsuchenden die Adressen aus, wenn er laut Eingliederungsvereinbarung beispielsweise täglich eine Bewerbung schreiben muss? Ist es sinnvoll, sich auf Ausschreibungen zu bewerben, obwohl man eigentlich weiß, dass man für die Stelle nicht mal im Ansatz das richtige Profil hat? Ist das gewollt?

Unter den vielen Bewerbern für den Empfangsbereich des Museums war auch ein Schlachter. Ein eigenwilliger Fall von versuchtem Quereinstieg. „Wir wollen ja auch nicht, dass die Bewerber die Unternehmen lahm legen“, sagt Böhrnsen dazu.

Lahm gelegt wurde das Museum nicht, aber doch über einen langen Zeitraum beschäftigt. Der Museumsdirektor, der ebenfalls nicht mit Namen genannt werden möchte, schätzt, dass unter den 1.000 Bewerbern etwa 200 „Scheinbewerbungen“ waren. Also Bewerbungen, die um der Pflicht willen geschrieben wurde. In Ordnung ist das sicher nicht. Aber vielleicht eine logische Konsequenz, wenn es gerade keine freien Stellen für Schlachter gibt?

Um der Lage Herr zu werden, entwarf der Direktor mit seiner Assistentin ein Auswahlraster, einen kleinen Fragekatalog. „Man hat gar nicht die Zeit, sich jede Bewerbung im Einzelnen durchzulesen.“ Wer in die engere Auswahl kam, musste erstens im Anschreiben betonen, dass er flexibel einsetzbar ist. Diese Voraussetzung hatte auch in der Chiffreanzeige gestanden. Zweitens musste das Alter stimmen. Ende 30 bis Ende 40 sollten die neuen Mitarbeiter sein.

Solche Menschen bringen eine gewisse Lebens- und Berufserfahrung mit, sagt der Direktor, sie können mit der eher älteren Klientel seines Museums gut umgehen – und sie sind noch so jung, dass sie für ein paar Jahre bleiben können.

Dritte Voraussetzung: Erfahrung im Servicebereich. Es gibt eine kleine Verkaufsfläche mit Kunstpostkarten und Büchern in dem nicht minder kleinen Museum. Nichts Besonders. Und sicher nichts, in dass man sich nicht innerhalb einer Woche einarbeiten könnte. Aber an irgendeiner Stelle muss bei einem eklatanten Ungleichgewicht von Angebot und Nachfrage das Trennmesser angesetzt werden.

Trotzdem gab es „bestimmt 200 Menschen, die wir gerne eingeladen hätten.“ Eingeladen wurden am Ende 20, und den Ausschlag für die Einstellung haben neben den Qualifikationen und der Sympathie auch soziale Aspekte gegeben.

Es mag viele Gründe geben, warum die kleine Chiffreanzeige eines Hamburger Museums eine solche Bewerbungsflut ausgelöst hat. Der Museumsdirektor hat zwischendurch überlegt, ob sein Text zu allgemein gehalten war. Der Pressesprecher der Arbeitsagentur denkt, dass es ein „attraktiver 400-Euro-Job“ sei und die Masse der Bewerbungen im Übrigen „eine Ausnahme“ und keinesfalls zu verallgemeinern.

Ein Grund jenseits des Geldes fällt dem Direktor nach längerem Überlegen noch ein: „Es gab viele Bewerbungen, aus denen ich gelesen habe, dass die Leute sich nicht mehr gebraucht fühlen.“ Ihm ist viel Frust in den Anschreiben aufgefallen, er denkt heute noch darüber nach. Das nächste Mal holt er sich vielleicht eine Vermittlungsagentur zur Hilfe.

Im Januar dieses Jahres – zwei Monate nach der Ausschreibung – waren alle Briefe geöffnet, alle Gespräche geführt, alle Rücksendungen eingetütet, frankiert und abgeschickt. Die Bewerber erfuhren mit dem Absagebrief zum ersten Mal, um welches Museum es sich gehandelt hatte. Übrigens waren es überaus höfliche Absagebriefe. Unter anderem stand darin zu lesen: „Bitte entschuldigen Sie die etwas unpersönliche Form unseres Antwort-Schreibens, die in der großen Anzahl von Bewerbungen begründet ist.“

Unter den vielen, die diese Zeilen gelesen haben, ist auch eine Kunsthistorikerin mit Doktortitel. Sie war nicht eingeladen in den engeren Kreis der Bewerber, obwohl sie wahrscheinlich eine wunderbare Fachkraft gewesen wäre. Gemäß ihrer Ausbildung steht sie dem Museumsdirektor in nichts nach. Aber was für eine Augenhöhe könnte das sein, vom Chef zur Aushilfskraft, wenn nicht mehr die Qualifikation den Unterschied macht, sondern nur das Glück, das man im Leben hatte? Und welcher Türöffner könnte das sein: räumlich in der Nähe seines Traumberufes, aber faktisch ohne Möglichkeit des Aufstiegs oder Weiterkommens? „So locker ist keiner“, sagt der Direktor nachdenklich, „dass er damit umgehen kann.“ Natürlich nicht.