Beim Tanzen sieht man dich nackt

Ein Tänzer muss Masochist sein, meint der Bremer Tanztheater-Chef Urs Dietrich. Ein Gespräch über Bühnenangst und blaue Flecke, Älterwerden und die Sekunden, in denen man sich nach all der Schinderei vollkommen glücklich fühlt

taz: Als Tanztheater-Zuschauer verfolgt man sportliche Höchstleistungen und stellt sich gemarterte Muskeln und Blut in den Ballettschuhen vor. Gehören Tanz und Schmerz zusammen?

Urs Dietrich: Das muss nicht so sein, aber es ist so. Gerade haben mir zwei Tänzerinnen ihre blauen Flecke und Schürfwunden gezeigt. Das ist unser Beruf. Als Tänzer ist man Masochist. Die Bühne ist kein Spielplatz. Man muss durch die Hölle gehen.

Und das ist es wert?

Naja, Tanz ist nicht nur Qual. Aber man muss leidensfähig sein. Die Disziplin haben, über seinen Körper hinauszugehen.

Was wird denn am meisten beansprucht?

Der Körper besteht Gott sei Dank nur aus Kopf, Torso, zwei Beinen und zwei Armen. Nur die Beine zu spreizen ist keine Höchstleistung. Höchstleistung ist, wenn alles einen Sinn macht.

Aber was tut am meisten weh?

Nicht geliebt zu werden.

Aha. Haben Sie davor Angst, wenn Sie auf der Bühne stehen?

Nein. Auf die Bühne zu gehen ist für mich absolut wichtig, aber das Publikum spielt dabei keine Rolle. Ich mache das für mich, um an meine Grenzen zu kommen. Auf der Bühne zu stehen, ist eine Ausnahmesituation. Ich muss mich drei Wochen lang darauf vorbereiten: gut essen, gut schlafen, gut denken.

Gut essen?

Ich muss darauf achten, dass ich genügend Energie bekomme. Wenn ich nicht tanze, vergesse ich das Essen, esse vielleicht einmal am Tag.

Als Tänzer braucht man nicht nur einen zarten Körperbau, sondern auch viel Kraft. Machen Sie Krafttraining?

Nein, aber klassisches Ballett, Gymnastik und viel Yoga. Das dehnt und diszipliniert den Geist. Kraft sind nicht nur Muskeln. Die Kraft kommt vom Zentrum her.

Gibt es beim Tanzen auch transzendente Erfahrungen, Entgrenzungserlebnisse?

Ja, aber sehr selten. Das ist das größte Glück. Man ist eins mit der Welt und sich.

Und nach Sekundenbruchteilen ist es vorbei?

Ein paar Minuten dauert es an.

Was kann man als Zuschauer von dem mitbekommen, was ein Tänzer erlebt?

Tanz ist die ehrlichste Sache überhaupt. Hinter Worten kann man sich verstecken wie hinter schönen Kleidern. Aber beim Tanzen sieht man einen Menschen nackt. Man sieht jeden Patzer, jede Unkonzentriertheit. Und man sieht seine Angst.

Wie kann man sich davor schützen?

Indem man viel geprobt hat. Die Bewegungen sind dann im Körper, man kann den Kopf ausschalten.

Sie sind jetzt 48. Wie geht man als Tänzer mit dem Älterwerden um?

Tänzer werden später alt, mindestens zehn Jahre. Die Haut ist besser, der Kreislauf, alles.

Kann man denn bis zum Rentenalter seinen Beruf ausüben?

Man wird nicht mehr engagiert, wenn der Körper fett wird. Das ist eine ästhetische Frage. Viele Frauen steigen aus, wenn sie heiraten und Kinder bekommen. Tänzer arbeiten im therapeutischen Bereich, werden etwa Masseure oder Heilpraktiker. Oder sie unterrichten. Aber es gibt auch große Ausnahmen: Meine Freundin steht mit 61 noch auf der Bühne.

Fragen: Annedore Beelte