Dichter und Dilettant

BIOGRAFIE Egon Friedell (1878–1938) war Schriftsteller, Schauspieler, Verfasser einer monumentalen Kulturgeschichte. Und ganz eigentlich war er ein Gesamtkunstwerk

„Die beste Luft der Welt hat Berlin“, schreibt Friedell an Lina Loos

VON SVEN BRÖMSEL

Berlin war die Hölle. „Der Zustand, in dem ich schreibe“, bekennt der noch nicht alte, doch an die 90 Kilo schwere Schauspieler aus Wien an seine leider nur platonisch geliebte Lina Loos, „ist der eines völlig geknickten Menschen. Ich habe diese Stadt doch noch unterschätzt, sie zerstört einen völlig.“ Berlin war damals, 1913, eine vibrierende Metropole, deren brodelndes, von Banken, Theatern und Operettenbühnen angeheiztes Klima Schauspieler, Journalisten und Schriftsteller gerade auch aus Wien anzog. So feierte die Wiener Diseuse Fritzi Massary im „Metropol“ mit Revuen wie „Donnerwetter – tadellos“ (Paul Linke) Triumphe, während der aus Wien gebürtige Theater-Tycoon Max Reinhardt zwei Kilometer weiter im Deutschen Theater die führende Bühne des deutschsprachigen Raums etabliert hatte. Das Motto der Stadt, schrieb der Berliner Journalist Walther Kiaulehn, hieß: „Tempo, Tempo!“

Auch mit dem Berliner Publikum kam der an die Kaffeehaus-Gemütlichkeit der Donaumonarchie gewohnte Schauspieler anfangs nicht immer zurecht. So verblüffte ihn ein Zuschauer bei einem seiner literarischen Kabarett-Sketche, für die ihn die Wiener liebten, mit dem Kommentar: „Jehirnfatzke“. „Ich erhob mich sofort“, schrieb er empört an Lina, die ehemalige Gattin des Wiener Avantgarde-Architekten Adolf Loos, „hielt eine kurze, sehr scharfe Ansprache und ging ab.“ Egon Friedell, „der Humorist“, wie sein einstiger Mentor Karl Kraus ihn spöttisch nannte, verstand keinen Spaß, wenn er sich künstlerisch nicht ernst genommen fühlte.

Aber wer war Egon Friedell? Man kennt noch seine großartige „Kulturgeschichte der Neuzeit“, zwischen 1927 und 1931 erstmals im C. H. Beck Verlag erschienen, die ihren Autor zum Klassiker der Kulturgeschichtsschreibung erhoben hat. Dass aber dieser angeblich „heitere Philosoph“ Jahrzehnte vor seinem Hauptwerk als Kritiker, Essayist und Satiriker Hunderte von Beiträgen für Zeitungen und Zeitschriften wie Karl Kraus’ Fackel oder die Berliner Schaubühne verfasste, ist heute so wenig bekannt wie die Tatsache, dass Friedell einen guten Teil dieser Texte virtuos in seine „Kulturgeschichte“ einmontiert hat.

Bernhard Viel macht nun in seiner Biografie „Egon Friedell. Der geniale Dilettant“ den nach außen hin so kompakt erscheinenden geschichtsphilosophischen Causeur der Wiener Kaffeehausrunden als höchst widersprüchlichen Charakter erkennbar. Als erster Friedell-Exeget zeichnet Viel den von Traumatisierungen und schulischen Misserfolgen gesäumten Lebensweg des jungen Friedell nach, um die Wurzeln seines Denkens freizulegen. Demnach war die Begegnung mit dem damals berühmten Philosophieprofessor Kuno Fischer wegweisend: Der machte den wissbegierigen jüdischen Fabrikantensohn in den späten 1890er Jahren in Heidelberg mit Novalis, Herder und Kant bekannt, die Friedell den Weg zu seinem metaphysisch begründeten Weltbild öffneten.

Verlorene Mystik

Die vielfältigen Tätigkeiten Friedells als Publizist, Schauspieler und Schriftsteller erscheinen in einem schlüssigen Gesamtbild: Friedell sah all diese Tätigkeiten als Ausdrucksformen einer für ihn wesentlichen Denkfigur an, die er mit den Begriffen des „Dichters“ und „Dilettanten“ benennt: Gemeint ist damit der Typus des schöpferischen Menschen, den Friedell als Gegenfigur des „Experten“ beschreibt, der im Gitterwerk seines positiven Wissens gefangen bleibt. An diesem Punkt offenbart sich dann auch, dass Friedell die Genieästhetik der Romantik für seine emphatische Vorstellung des „Dichters“ fruchtbar macht.

Viel lässt zudem erkennen, woran die intellektuell bestürzend flache Friedell-Rezeption noch nicht einmal gedacht hat: dass Friedells Geschichtsphilosophie ihren ruhenden Pol in der Gottesvorstellung des Mittelalters findet, insbesondere in der Mystik Meister Eckharts. Von hier führt der Weg wieder zu Novalis’ Vorstellung einer mystischen Einheit von Gott und Seele. „So leuchtet ein“, resümiert der Autor, „dass Friedell in Novalis den Versuch sah, Anschluss an die verlorene Mystik zu gewinnen, und in der romantischen Begeisterung des Mittelalters eigene Vorstellungen finden und formen konnte.“

Viel entfaltet ein anschauliches Panorama der Epoche zwischen Gründerzeit und Nationalsozialismus. Naturgemäß agiert Friedell darin als Hauptfigur, erscheint aber zugleich in einem verzweigten Geflecht von Freundschaften und Bekanntschaften, das von Peter Altenberg und Alfred Polgar über Oskar Kokoschka, Arthur Schnitzler und Gustav Klimt bis zu Max Reinhardt und bekannten Schauspielern wie Hans Moser und Hans und Helene Thimig reicht.

So ist diese Biografie, ganz im Sinne Friedells, selbst eine Art Kulturgeschichte. Die Bedeutung allerdings, die Nietzsche für Friedells kulturpessimistisches Geschichtsbild hat, streift Viel nur kurz. Und dass Friedells Denken etliche Gemeinsamkeiten mit der Kulturkritik postmoderner Autoren wie Michel Foucault oder Jean Baudrillard aufweist und darin die Modernität des konservativen Kulturphilosophen aufscheint, wird überhaupt nicht erwähnt. Gleichwohl bleibt es ein Verdienst dieses Buches, erstmals den Boden bereitet zu haben, der es erlaubt, den Weg von Friedells Kritik an der rationalistischen Entwicklung der europäischen Neuzeit in das aktuelle Denken zu verlängern.

Mit Berlin hat sich das „Wiener Original“ dann übrigens rasch angefreundet. „Die beste Luft der Welt hat Berlin“, schreibt Friedell im September 1913 an Lina Loos. Zeitungen bitten ihn um Beiträge. So habe er, fährt er fort, soeben für die Woche „einen schauerlichen Blödsinn“ abgeliefert und dafür am nächsten Tag „eine Postanweisung auf 150 Mark erhalten“. Und triumphierend merkt er an: „Wie leicht man hier sein Geld verdient!“

Bernhard Viel: „Egon Friedell. Der geniale Dilettant“. C. H. Beck 2013, 352 S., 24,95 Euro