Reife Leistung

Als Puccinis scheue Prinzessin Turandot gewinnt die Japanerin Shizuka Arakawa Eiskunstlauf-Gold

AUS TURIN DORIS HENKEL

Für ein paar kostbare Augenblicke hatte die Welt da draußen keine Bedeutung mehr. Shizuka Arakawa beugte sich weit zurück, breitete die Hände aus und glitt in dieser Pose übers Eis. Zwei, drei Sekunden lang verharrte sie so, als schwebe sie über einem See aus Seide. Getragen und verführt von der Musik, und vielleicht waren das die intimsten Sekunden der Spiele von Turin. Seelenvoll, bezaubernd schön. Sicher, mit einer einzigen Pose kann man keine Goldmedaille gewinnen, und auch Shizuka Arakawa zeigte kleine Schwächen. Aber keine lief am Abend der Entscheidung in Turin besser, und so feierte Olympia nach einem Jahrzehnt kichernder Teenager diesmal den Sieg einer Frau im vergleichsweise reifen Alter von 24 Jahren.

Arakawa ganz oben, nicht die russische Favoritin und Weltmeisterin Irina Slutskaja oder deren amerikanische Herausforderin Sasha Cohen – was war passiert? Das ist schnell erzählt. Cohen hatte Gold schon nach einer Minute verloren, nach einem Sturz beim dreifachen Lutz und einer verpatzten Kombination mit dem Flip gleich danach. Sie rappelte sich zwar wieder auf und lief den Rest tapfer zu Ende, aber als sie vom Eis ging, dachte sie: Eine Medaille kannst du vergessen. Danach kam Arakawa. Die reduzierte zwar den Schwierigkeitsgrad ihrer Kür, gab sich dafür ganz dem Ausdruck hin, und das Publikum in der Palavela-Halle atmete tief durch. Sie lief nicht nur zu Puccinis Musik, sie war die Prinzessin Turandot, geheimnisvoll und scheu.

Es gab nicht wenige, die vor der Kür vermutet hatten, Arakawa werde, bei allen Fähigkeiten, im entscheidenden Moment nicht den Mumm haben, sich gegen Cohen und Slutskaja zu behaupten. Vom Druck, der Nation kurz vor Schluss der Spiele einen Dienst zu erweisen, gar nicht zu reden. „Es geht darum, das Gesicht zu wahren“, hatte in der englischen Ausgabe der japanischen Tageszeitung Asahi Shimbun am Freitag gestanden. „Zwei brave Seelen sind aus der Asche aufgestiegen, um Japan vor der Peinlichkeit zu bewahren, zum ersten Mal in 30 Jahren keine Medaille bei Winterspielen zu gewinnen.“ Der Rückstand von Fumie Suguri, der zweiten braven Seele, war nach dem Kurzprogramm zu groß, und so lag alle Last auf Shizuka Arakawa.

Die wusste, dass sie eine Medaille gewonnen hatte, als sie die hohe Wertung sah. Welche, das hing von Irina Slutskaja ab, die als Letzte lief. Doch sie, die sonst so Solide, wirkte von Beginn an fahrig, und als sie schließlich beim dreifachen Rittberger stürzte, war klar, dass sie Gold an Arakawa und deren Kunst verloren hatte. Ohne den Sturz hätte es zu Silber gereicht, doch darauf kam es wohl nicht mehr so sehr an; Slutskaja meinte hinterher, sie sei glücklich, überhaupt eine Medaille gewonnen zu haben. Sie lächelte, aber keine Frage: Das Lächeln fiel ihr nicht leicht. Nach allem, was sie in ihrer glanzvollen Karriere schon gewonnen hatte, fehlte nur noch Gold, aber wie Michelle Kwan wird sie nun auch irgendwann ohne diese schillerndste aller Medaillen zurücktreten müssen.

Im Moment, als die Wertung der Russin auf dem Bildschirm in der Halle erschien, schlugen über Shizuka Arakawa in den Katakomben japanische Wogen zusammen; sie, völlig verwirrt, mittendrin. Und Sasha Cohen, die sich bereits in der Annahme umgezogen hatte, bei der Siegerzeremonie nicht dabei zu sein, schlüpfte wieder in ihr rotes Kostüm. Später, bei der Pressekonferenz, steuerte sie einen schönen Satz zur Bedeutung dieses ereignisreichen Abends bei. „Das war ja nur ein Ausschnitt von vier Minuten an einem Tag meines Lebens.“ Shizuka Arakawa hat genau auf einen solchen Ausschnitt von vier Minuten gewartet.

Daheim hatten viele über die neue Wunderläuferin Mao Asada geredet, doch die war zwei Monate zu jung, um in Turin starten zu dürfen. Als Dritte der japanischen Meisterschaften hinter Asada und Suguri qualifizierte sich Shizuka Arakawa für die Olympischen Spiele. Jetzt sagt sie, an eine Medaille habe sie nicht geglaubt. Aber an die Hoffnung, irgendwann noch mal vier Minuten auf dem Eis zu erleben, das sich unter ihren Füßen in einen See aus Seide verwandelt.