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Göttergleiches Genie

Vor hundert Jahren präsentierte Auguste Rodin sein Werk in Deutschland – revolutionär als „Work in Progress“. Die Ausstellung im Bucerius Kunst Forum nimmt diese Inszenierung wieder auf

1900 wird Rodin Mitglied der Kunstakademie Dresden und der Berliner Sezession

von Hajo Schiff

Der sein Kinn stützende, melancholisch sinnend kauernde Denker ist ein Leitwerk des 20. Jahrhunderts – auch wenn Auguste Rodin die Figur schon 1881–1883 erarbeitet hat. Doch erst nach der Pariser Weltausstellung von 1900, wo er in einem eigenen Pavillon 150 Werke zeigt, wird der französische Bildhauer ein internationaler Star. 1903 bestellt der Augenarzt Max Linde ein vergrößertes Exemplar des Denkers für seinen Garten in Lübeck. Dort wird die Skulptur 1907 von Edvard Munch gemalt.

Derartigen Wirkungslinien spürt eine Ausstellung nach, der das Bucerius Kunst Forum den Titel „Vor hundert Jahren. Rodin in Deutschland“ gegeben hat. Sie erinnert daran, dass die Beziehungen des Meisters zu Deutschland besonders intensiv waren. Schon 1891 hatte Alfred Lichtwark, Direktor der Hamburger Kunsthalle, Rodin in Paris besucht. 1894 kauft Dresden als erstes deutsches Museum zwei Werke an. 1900 wird Rodin Mitglied der Kunstakademie Dresden und der Berliner Sezession, das Hamburger Museum für Kunst und Gewerbe kauft eine Bronzebüste. Rainer Maria Rilke veröffentlicht 1903 eine Studie über Rodin und wird zwei Jahre später für einige Zeit dessen Privatsekretär. Er bedichtet ihn als göttergleich schaffendes Genie – in poetischer Sprache, wie sie heute als Kunstkritik schwer erträglich ist. Der im Keller des Bucerius-Forums gezeigte pathetische Film belegt dies mehr oder weniger unfreiwillig.

Doch solche hymnische Verehrung ist nicht allgemein: Rodin war damals noch umstritten. Es musste Anfeindungen geben, war doch sein prozessualer Werkbegriff und die konsequente Zurschaustellung von Torsi und gipsernen Varianten geradezu revolutionär. 1904 beginnt eine Ausstellungstournee zu neun Orten in Deutschland. Hierauf bezieht sich die runde Zahl von hundert Jahren im Titel, nicht etwa auf den hundertsten Todestag – der wäre erst 2017. Die Art der damaligen Präsentationen ist ungewöhnlich: Alle Formen von Vorstufen, Vergrößerungen und Verkleinerungen seiner Motive, die bis dahin als reine Hilfsmittel nur gering geachteten Gipse, auch Fotos und Zeichnungen werden gleichwertig als ein „Work in Progress“ gezeigt. Die aktuelle Ausstellung im Bucerius-Forum nimmt diese Inszenierung wieder auf. In dem Säulenrondell sind auch jetzt gleichermaßen Marmorskulpturen wie die „Eva“, Gipse aus der Arbeit an den „Bürgern von Calais“, dem „Höllentor“ und den großen Denkmälern für Balzac und Victor Hugo, Bronzeplastiken wie die unter ihrer Last zusammenbrechende Karyatide, Chrombromsilbergelantineabzüge von Eugène Druet und eine kleine Auswahl der 8.000 aquarellierten Zeichnungen zu sehen.

Besonders die Akt-Zeichnungen haben nichts von ihrer Frische verloren, sind doch diese leicht hingetuschten Blätter des sich hier geradezu erotoman gebenden Rodin noch moderner als die dreidimensionalen Werke – in der Frankfurter Schirn wurden sie vor wenigen Monaten mit den Zeichnungen von Joseph Beuys verglichen. 1905 allerdings verursachten die freizügigen Akte in Weimar einen derartigen Skandal, dass der Museumsdirektor Harry Graf Kessler zurücktreten musste.

Abgeschlagene Köpfe, verstümmelte Hände, auseinander gebrochene, verletzte und roh wieder zusammengefügte Figuren, Formen, die sich aus ungeformten Klumpen Gips herauszuschälen scheinen: Rodins Modernität lässt die klassischen Regeln weit hinter sich. Die Gipse von sieben gebeugten rechten Beinen in einer kleinen Vitrine verweisen darauf, wie Rodin sich von allen naturalistischen Anfängen entfernt: Im Alter zitiert und kombiniert er aus dem eigenen Fundus. Erst viel später wird die Kunst dafür den Begriff Assemblage prägen. Kein Geringerer als Henry Moore sagte, mit Rodin beginne die Skulptur der Moderne. Das ist, besonders hinsichtlich der Assemblagen und der autonomen Torsi, nicht falsch. Doch vor ihm gab es schon Michelangelo. Aber ein geringeres Maß wäre für Rodin wohl auch nicht angemessen.

Bucerius Kunst Forum, Rathausmarkt 2; bis 25. Mai tägl. 11–19 Uhr. Katalog im Hirmer Verlag, 192 Seiten, 19.90 Euro. www.buceriuskunstforum.de

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