Der lange Aufstand der Marginalisierten

NORDIRLAND Während der Paradensaison kommt es seit Tagen wieder zu den Straßenschlachten zwischen Polizei und protestantischen Jugendlichen. Diese zählen sich zu den Verlierern des Friedensprozesses

Jetzt wollen die Ordensbrüder wenigstens bestimmen, wo sie marschieren

VON RALF SOTSCHECK

DUBLIN taz | Alle Jahre wieder: Seit Freitag kommt es in der nordirischen Haupstadt Belfast jede Nacht zu Straßenschlachten zwischen protestantischen Jugendlichen und der Polizei. Die einen benutzen Steine und Brandsätze, die anderen Wasserwerfer und Plastikgeschosse. Bisher wurden 40 Polizisten verletzt, 35 Menschen verhaftet. Der Westminster-Abgeordnete Nigel Dodds von der Democratic Unionist Party (DUP) des reaktionären Pfarrers Ian Paisley wurde von einem Ziegelstein getroffen und kam erst im Krankenhaus wieder zu Bewusstsein.

Auslöser der Krawalle war die Entscheidung, eine Parade des 1795 gegründeten Oranierordens durch die katholische Enklave Ardoyne zu verbieten. Der Orden, der nach Wilhelm von Oranien benannt ist, organisiert jedes Jahr mehr als 3.000 Paraden in Nordirland. Der 12. Juli ist der größte Feiertag im protestantischen Kalender. An diesem Tag im Jahr 1690 besiegte Wilhelm in der Schlacht am Boyne nördlich von Dublin seinen katholischen Schwiegervater Jakob II. und sicherte dadurch die protestantische Thronfolge in Großbritannien. Bis heute darf kein Katholik König werden. Die rund 80.000 Mitglieder des Oranierordens müssen sich verpflichten, „keine Feier und keinen Akt papistischer Gottesverehrung durch ihre Anwesenheit oder anderswie zu begünstigen“.

Am Jahrestag der Schlacht marschieren sie, bekleidet mit Bowlerhüten, schwarzen Anzügen, weißen Handschuhen und orangenen Schärpen, durch jede Stadt und jedes Dorf. Die meisten dieser Paraden verlaufen friedlich, zumal viele Katholiken in dieser Zeit Urlaub nehmen und das Weite suchen. Doch einige Paraden führen durch katholische Viertel. Weil dort früher Protestanten lebten, beharrt der Orden darauf, die traditionelle Route entlangzumarschieren. Das führt jedes Jahr zu Konflikten.

Die nordirische Polizei hatte bereits im Vorfeld 600 zusätzliche Beamte aus England, Schottland und Wales angefordert. Nach Beginn der Ausschreitung kamen weitere 400 Polizisten aus Großbritannien. Die britische Nordirland-Ministerin Theresa Villiers sagte: „Es ist eine Schande, dass dies nur wenige Wochen nach dem für Nordirland so unglaublich erfolgreichen G-8-Gipfel passiert.“ Sie drohte den Krawallmachern „ernsthafte Konsequenzen“ an. Neun Randalierer wurden bereits am Sonntag vor Gericht angeklagt, weitere werden folgen, sobald die Polizei das Filmmaterial ausgewertet hat.

Nordirlands Regierungschef Peter Robinson forderte ein Ende der Gewalt. „Es ist sehr wichtig, in dieser Lage einen kühlen Kopf zu bewahren“, sagte er. Die Menschen sollten dem Aufruf des Oranierordens folgen, die Krawalle zu beenden. Allerdings hatte der Orden überhaupt erst zu den Protesten aufgerufen und durch antikatholische Parolen die Situation angeheizt. Die Protestanten sehen sich als Verlierer des Friedensprozesses, der Nordirland nach Jahrzehnten protestantischer Herrschaft eine Machtbeteiligung katholischer Parteien beschert hat. Ihrer Privilegien beraubt, wollen die Ordensbrüder wenigstens bestimmen, wo sie marschieren.