: Mit dem Paten am Familientisch
AUS AACHEN BERND MÜLLENDER
Um dieses sehr spezielle Lokal so richtig schön falsch zu verstehen, muss man einmal da gewesen sein. Die Einrichtung scheint eher 30 als 20 Jahre alt zu sein, die blauen Holzstühle sind unbequem, die Sitzkissen schäbig. An Decke und Wänden wellt sich die Verkleidung ab, auf den Tischen stehen Karikaturen von Mini-Topfpflanzen. Der Kellner bringt eine pappige Pizza und ein warmes, schlecht gezapftes Pils.
Wer mehr als einmal da war, ahnt, dass mit dem ersten Blick etwas nicht stimmte. Im Aachener Restaurant Kalymnos geht es nicht um gastronomische Normen oder die Qualität von Essen und Trinken. Die Mittwochabende etwa lassen einen staunen. Da klampft und singt eine halbe Hundertschaft Figuren wie aus dem Vorgestern: Rauschebärte, Altfreaks, in Ehren ergraute Aktivisten der 68er und 78er Jahre. Durch den Raum schallen Dylan oder Donovan, und danach gibt es ein Gyros und fürs ganze Lokal eine Runde Ouzo.
Seit dem Sommer 1981 gibt es das ewig gleiche Kalymnos. Heute Abend ist Schluss. Insolvenz. Gerichtsbeschluss. Die Trauer ist sehr groß. Um diesen Ort in Ansätzen zu kapieren, muss man sich unter den Stammgästen umtun. Sie nennen das Kalymnos ihre zweite Heimat, sprechen von Familie, dem Wohnzimmer um die Ecke. Sie sind Bausachverständiger von Beruf, Heilpraktikerin, Kabarettist und Kunstmaler, Cheforthopäde einer Reha-Klinik, Weinhändler, Lehrerin natürlich auch, die meisten zwischen 40 und 60. „Sobald du über die Schwelle trittst, bist du in Griechenland“, sagt Verbraucherschützerin Gabi (45).
Vaterfigur, Therapeut?
Und gleichzeitig in einem anderen Deutschland. Denn im Kalymnos hat die Szene eine Oase des Daseins geschaffen, von dem alle vor 30 Jahren geträumt haben. Tatverantwortlich ist Antonis Antonoglou, der Wirt. Sohn eines Schwammtauchers von der Insel Kalymnos, Kettenraucher und Ketten-Kaffeetrinker, immer in verwaschener Jeans, eine charismatische Persönlichkeit von 60 Jahren und bescheidenen 1,62 Metern Höhe.
Über ihren „Adonis“ geben alle inflationär Liebeserklärungen ab: ein väterlicher Charmeur sei er, wahrhaftig, großzügig und kinderliebend, „ein begnadeter Geschichtenerzähler und Zuhörer“. Einer, der „jedem das Gefühl gibt, wichtig zu sein, er hört immer zu, hat immer Zeit“. Sie nennen ihn den „Patron“ oder den „sozialistischen Paten mit Herz“, der aber auch „widerborstig zu Kleingeistern und Wichtigtuern“ sei. Eine sagt: „Er ist sich selbst immer treu geblieben, auch politisch.“ Deutschlehrer Tom (56) nennt ihn schlicht „den weisen Mann“.
1969 kam Adonis nach Aachen, geflüchtet vor dem Militärdienst. Er studierte einige Jahre Elektrotechnik und schaffte es, „erfolgreich abzubrechen“. Es gab Wichtigeres: Aachen wurde so etwas wie die deutsche Keimzelle des Widerstands gegen die griechische Militärdiktatur (1967-74), und Adonis war mittendrin. Mit der sozialistischen Hochschulgruppe organisierte er Demos und ein großes Solidaritätskonzert mit Mikis Theodorakis.
Heute sagt er: „Doktrinäre Kommunisten waren nie meine Freunde, ich bin humanistischer Sozialist. Und meine politischen Ansichten sind immer sehr stabil geblieben.“ Franz-Josef (51), Prokurist, nennt Adonis „geheimnisvoll, schräg, eine Spur buddhaistisch“. Für Lehrerin Uschi (58) strahlt er immer „eine Atmosphäre aus, die etwas magisch Anziehendes hat“. Ist er Vaterfigur, Kumpel, Freund? „Schwierige Frage“, sagt Adonis. „Manche hier sind echte Freunde für mich seit vielen Jahren.“ Wichtig sei es, „mit allen warmherzig umzugehen“. Ein Therapeut? Er zögert. „Du musst immer Zeit haben, zuhören, immer präsent sein, sieben Tage die Woche. Dafür muss man die Menschen lieben und darf nie auf Aussehen, Beruf und Umsatz achten.“ Und: „Die Leute fühlen sich hier unter meinem Schutz. Und ich habe ja auch so viel zurückbekommen.“
Über sein Essen zu sprechen, fällt Adonis nicht leicht. Kritik trifft seine Wirtsehre, seine griechische Seele. „Wem es nicht schmeckt, der kann ja woanders hingehen.“ Es habe sich bei ihm über die Jahre „nichts verändert“. Da leuchten seine Augen. Kontinuität als eisernes Merkmal. Im Kalymnos schmeckt eben auch schlechtes Essen gut. Basta. Solche Restaurantphilosophie lässt sich auch als ziviler Ungehorsam den Verhältnissen gegenüber interpretieren. Im Kalymnos wird nicht mit dem Strom geschwommen, sondern im eigenen.
Insolvenz und Räumung
Wichtigster Einrichtungsgegenstand ist der große Familientisch, links vor dem Tresen. Hier sitzt Adonis immer auf dem einzigen Stuhl des Lokals, der zwei kleine Armlehnen hat. Niemand sonst setzt sich dahin. Schulrat Norbert hat dazu seine Gedanken aufgeschrieben: „Wer das Glück hat, am Familientisch sitzen zu dürfen, erlebt, dass intensive Gespräche über Politik, Philosophie, Religion, Gott und die Welt übergehen in Musik, in Spiel und Lachen.“ Spät abends, wenn „Adonis in seinem Kneipiers-Rhythmus Hunger hat“, wird oft plattenweise aufgefahren und „alle sind natürlich eingeladen, und es spielt keine Rolle, ob du Professor, arbeitslos oder Lehrer bist. Und wer unglücklich war, ist es jetzt etwas weniger, und wenn wir nach Hause gehen, beglückt, erfüllt, denke ich an Adonis, diesen einsamen Zauberer, der jetzt alleine in seine Wohnung geht, in der er auf gepackten Koffern sesshaft geworden ist.“
Stammgast Adam (56), Museumsdirektor in Aachen, analysiert strenger: Möglicherweise sei das Kalymnos „auch nur eine Projektion unserer entfremdeten Gesellschaft auf vermeintlich noch intakte mediterrane Lebensformen“. Keine Projektion ist „die geile Bundeskegelbahn“, wie ein Gast das grandios schrottige Kellerverlies nennt, das sich jeder Beschreibung versperrt. Tatsächlich: eine offizielle Bundeskegelbahn, hier im Kalymnos! Im Jargon der Gäste heißt sie Mehrzweckhalle. Hier wurde oft gefeiert, manchmal auch – heißt es – spät nachts gevögelt, hier grölte der Freitagschor. Eine erinnert sich: „Wir sangen, bis der Raum sich weitete.“
Kalymnos ist auch Kulturort. Es gab immer Lesungen und Konzerte, Kurse in griechischer Sprache und Tanz, manchmal Filmabende. „Und nichts kostete jemals Eintritt“, sagt Adonis. Der Rezitator Lutz Görner habe mal gesagt: „Adoni, ich bin viel herumgekommen, aber so ein Lokal wie das Kalymnos gibt es nirgends noch einmal.“
Knapp 20 Jahre lang ging alles seinen sozialistischen Gang, dann kam ein neuer Hauseigentümer. Die Folge: viel Streit, nach Wasserschäden „keinerlei Gesprächsbereitschaft“, stattdessen „immer neue Auflagen des Ordnungsamts“, schließlich Anwälte, Papierkrieg. Dann Mietstreik. Am Ende ging es um eine fünfstellige Summe. Adonis meldete Insolvenz an. Das Gericht verfügte die Räumung zum heutigen letzten Februartag.
Nach Griechenland, wo seine Frau und die zwei Kinder (13 und 11) schon leben, wollte Adonis ohnehin 2007. Aber: „Ich hätte so gern noch das 25-Jährige hier gefeiert, im Sommer.“ Die Verhältnisse nehmen darauf keine Rücksicht. Dem Kölner Schriftsteller Günter Wallraff fühlt sich Adonis „sehr, sehr zu Dank verpflichtet“. Wallraff hatte sich 1974 auf dem Athener Syntagmaplatz angekettet und mit weltweiter Aufmerksamkeit ein Stück weit für die Entkettung Griechenlands aus der Diktatur gesorgt. 2004 wurde Wallraff Ehrenbürger von Kalymnos – auf dem Original, der Insel in der Ägäis. Antonis Antonoglou hatte das eingefädelt. Ein großes Fest muss das gewesen sein. Wenn heute im Kalymnos gefeiert und getrauert wird, will auch Wallraff dabei sein.
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