Schweden glaubt immer noch an die Idylle

Vor zwanzig Jahren wurde der schwedische Ministerpräsident Olof Palme erschossen. Der Mord ist bis heute nicht aufgeklärt, die Ermittlungen waren ein Fiasko. Viel geändert am schwedischen Selbstbild hat die Tat jedoch nicht

STOCKHOLM taz ■ 28. Februar 1986, 23.21 Uhr. Sveavägen Ecke Tunnelgatan, mitten in Stockholms City. Vor 20 Jahren war Schwedens damaliger Ministerpräsident, Olof Palme, auf offener Straße erschossen worden. Für die schwedische Öffentlichkeit und die Medien ist der Jahrestag mal wieder ein Anlass, sich Fragen zu stellen: die nach dem Erbe Palmes, ob und wie das Land sich seither verändert hat, sowie die nach dem unbekannten Täter.

Denn natürlich blühen Spekulationen und Theorien, wenn man nach 20 Jahren polizeilicher Ermittlungsarbeit nur mit einiger Sicherheit zu wissen scheint, dass die Mordwaffe vom Kaliber 357 Magnum gewesen war. Drei Monate lang, vom 27. Juli 1989 bis zum 2. November 1989, war Christer Pettersson – ein drogenabhängiger Kleinkrimineller mit langem Vorstrafenregister – als Palme-Mörder verurteilt gewesen. Ihn hatte Palme-Ehefrau Lisbet, die ihren Mann in dieser Nacht auf dem Spaziergang vom Kinobesuch nach Hause begleitet hatte, als Täter identifiziert. Doch den Beweiswert ihrer Aussage sah das Revisionsgericht wegen haarsträubender Fehler bei der polizeilichen Ermittlungsarbeit als wertlos an und sprach Pettersson frei.

Nach wie vor versuchen viele Theorien, ihn mit dem Mord in Verbindung zu bringen. Das ist juristisch schon deshalb uninteressant, weil auch Pettersson mittlerweile tot ist. Er starb vor eineinhalb Jahren an den Folgen eines Sturzes – angeblich als Folge eines epileptischen Anfalls.

Mittlerweile glauben vier von fünf Schweden nicht mehr daran, dass der Mord an Palme je aufgeklärt werden wird. Zwar ermittelt nach wie vor eine Spezialkommission der Polizei, doch die Beamten bekommen kaum noch neue Tipps, und mit neuer Technik alte DNA-Spuren aufzuspüren, erwies sich als Sackgasse. Von am Tatort gefundenen Kugeln bis zu Kleidungsstücken sind diese möglichen Beweise vernichtet worden. Auch dies ist nur eine weitere Panne in den Ermittlungen, die man nur als reines Fiasko bezeichnen kann.

Manche glauben, dieses nicht mehr mit polizeilicher Unfähigkeit, sondern nur mit bewusster Sabotage erklären zu können. Sollte der wirkliche Täter gedeckt werden? Ihn suchte man auch in den Reihen der eigenen Polizei, des Geheimdienstes oder des Militärs. Dort wurde man aber ebenso wenig fündig wie im Ausland. Die internationalen Spuren reichten von Kurdistan nach Israel, den USA bis Chile und vom Iran bis nach Südafrika.

Schwedens international bekanntester und einflussreichster Regierungschef war ein kontroverser Politiker. Zahlreich war die Zahl seiner Bewunderer, aber auch seiner Feinde. „Ich habe gelernt, mit Morddrohungen zu leben“, erklärte Palme kurz vor seinem Tod in einem Interview. Aber in der Nacht des 28. Februar 1986 hatte er auf den Schutz von Leibwächtern verzichtet.

Das hat sich geändert. Auch in Schweden sind nun führende Politiker kaum noch ohne Leibwächter zu sehen. Anlass dafür war der Mord an der damaligen Außenministerin Anna Lindh vor zweieinhalb Jahren. Lindh war eine „Schülerin“ Palmes, die zu dessen Regierungszeit Vorsitzende der Jungsozialisten war.

Das Land werde nie mehr dasselbe sein, eine ganze Nation habe ihre Unschuld verloren, kommentierten in- und ausländische Medien bei Palme 1986, aber auch nach dem Mord an Lindh 2003. Doch haben diese Morde nicht allzu viel an der schwedischen Mentalität ändern können. „Es sieht so aus, als ob wir ein tief verankertes Selbstbild haben, weit außerhalb gefährlicher Vorkommnisse zu stehen“, erklärt der Sicherheitsexperte Bo Pellnäs. „Wir Schweden glauben nach wie vor, in einer Idylle zu leben.“

Für Palme-Sohn Mårten war „die Einführung einer internationalen Perspektive in die schwedische Politik“ das entscheidende Verdienst seines Vaters. Davon hat sich Schweden nach Palme und Lindh mittlerweile wieder verabschiedet und insofern tatsächlich geändert.

REINHARD WOLFF