Der Berg bewegt sich noch

„Man konnte nichts sehen. Die Luft war ganz weiß, wie Milch. Dann wurde sie rot. Niemand hat geschrien“

AUS CHIKAR TONI KEPPELER

Jeden Nachmittag, in der Stunde bevor die Sonne untergeht, klettert Shanaz Akhter über das Geröllfeld. Hindurch zwischen Felsbrocken, die lose im steilen Hang liegen, dreißig oder vierzig Tonnen schwer. Mit einer Hand hält sie sich fest, mit der anderen rafft sie den schwarzen Schleier unterm Kinn zusammen. Vorsichtig setzt sie den Fuß auf, prüft, ob der nächste Stein hält. Ist gar kein sicherer Tritt zu finden, nimmt sie beide Hände zu Hilfe und vergisst den Schleier. Nach einer Viertelstunde ist sie auf der anderen Seite; dort, wo am 8. Oktober vergangenen Jahres der Berg in sich zusammenstürzte. Auf einer Breite von über 300 Metern ist er weggebrochen und hat eine riesige Rinne hinunter ins Tal geschlagen. Drei Weiler lagen auf seinem Weg. 1.800 Menschen starben. Am Rand der Schneiße wurde das Geröllfeld mit den riesigen Steinbrocken aufgeworfen.

„Ich war unten im Tal, dort drüben, in der Mädchenschule. Ich bin Lehrerin dort“, sagt Shanaz. „Ich dachte, der Tag des jüngsten Gerichts sei gekommen. Es war ein Lärm wie von tausend Hubschraubern, die in der Luft zusammenstoßen. Man konnte nichts sehen. Die Luft war ganz weiß, wie Milch. Dann wurde sie rot. Ich habe gebetet. Erst als es wieder klar wurde, konnte man sehen, was geschehen war. Es war ganz still. Niemand hat geschrien.“

Shanaz klettert ganz nach vorn an den Abgrund zur Schneiße, setzt sich auf einen Felsbrocken und schaut hinunter ins Tal. Ein paar Meter unter ihr war einmal das Dorf Bail. „Genau hier stand unser Haus“, sagt sie. „Meine Schwester, ihr Mann und fast alle ihre Kinder sind gestorben.“ Einzig die älteste Nichte hat überlebt. Die Neunjährige war mit Shanaz in der Schule. Jetzt ist sie mit ihr herausgeklettert und sitzt auf dem Felsen, der dort liegt, wo einmal ihr Haus stand.

Der Erdrutsch von Bail war der größte, doch er war nur einer von vielen. Noch heute, vier Monate nach dem Beben, rutscht täglich irgendwo in Kaschmir ein Hang ab. Und dies hängt nicht allein mit dem Erdbeben zusammen. Seit 60 Jahren ist die Gegend Konfliktgebiet. Seit 60 Jahren wird nichts mehr investiert. Viele Männer sind gegangen, meist in die Golfstaaten, und schicken von dort ein bisschen Geld nach Hause. Die Zurückgebliebenen haben die einst dicht mit Zedern bestandenen Hänge abgeholzt; für Häuser und um in den harten Wintern zu feuern. Selbst in steilstes Gelände haben sie Terrassen gebaut, manchmal gerade noch einen Meter breit. Ein bisschen Platz, um Getreide anzubauen oder Ziegen und Bergbüffel grasen zu lassen. In dieser Landschaft hat das Erdbeben tiefe Risse hinterlassen.

Mitte Januar fiel Regen, eine Woche lang. Der Boden ist aufgeweicht. Eine Terrasse nach der anderen bricht ab. Unten im Jhelum-Tal ist die Straße, die von Muzaffarabad hinüber auf die indische Seite führt, immer wieder für ein paar Tage von Erdrutschen blockiert. Vor den Verschüttungen stauen sich Lastwagen mit Hilfsgütern. Oben in den Bergdörfern kommt nur wenig an. „Es gibt zu viele Erdrutsche“, sagt Oberstleutnant Mohammed Iftikhar. „Wir können uns nur um die großen Verbindungsstraße kümmern.“

Iftikhar ist stolz auf die Leistungen der Armee. „Schon am 8. Oktober waren die Ersten von uns hier.“ Seine Einheit wurde von Belutschistan in das Städtchen Chikar verlegt, zwei Stunden Fußmarsch von Bail entfernt. Wie viele Männer der Oberstleutnant unter sich hat, darf er nicht sagen. Militärgeheimnis. Wir sind in Kaschmir. Von Chikar aus kann man hinübersehen auf die andere Seite der Waffenstillstandslinie.

Andere Zahlen rattert Iftikhar gern herunter: Er ist zuständig für ein Gebiet, in dem rund 150.000 Menschen leben. Beim Erdbeben gab es 3.202 Tote und 2.486 Verletzte. 19.188 Häuser sind eingestürzt. Im Durchschnitt leben acht Menschen in einem Haus. Es wurden so gut wie alle Häuser beschädigt. „Wir haben 652 Millionen Rupien an Entschädigungen verteilt“, knapp 10 Millionen Euro. „Dazu kommen 200.000 Decken und 1.500 Tonnen Lebensmittel. Die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung ist heute besser als jemals zuvor.“

Vor dem Beben gab es in Chikar ein kleines Krankenhaus für die ganze Region. Als es zusammenstürzte, hat es 21 Patienten und vier Krankenpfleger erschlagen. Heute betreibt die Armee dort ein Feldlazarett. Ein paar huntert Meter weiter steht ein Containerkrankenhaus von Ärzte ohne Grenzen. „Besonders schwere Fälle fliegen wir aus – wenn es das Wetter erlaubt und gerade ein Helikopter da ist.“

„Die Armee drängt sich immer vor“, sagt Shanaz. Das Zelt, das sie bekommen hat, stammt vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. Der einfache Holzofen und die Decken von der deutschen Diakonie Katastrophenhilfe. Dazu ein paar Pfund Reis, Speiseöl und ein bisschen Tee vom Welternährungsprogramm. Alles wurde in Chikar verteilt; die Armee war immer dabei. „Sie setzen sich mit den Hilfsorganisationen an einen Tisch und führen Listen. Alles, was wir bekommen, müssen wir den Soldaten mit einem Fingerabdruck bestätigen. Sie wollen, dass wir glauben, die Hilfe komme auch von ihnen. Aber wir wissen, dass es nicht so ist.“

Shanaz campt neben der Ruine des Hauses eines entfernten Verwandten, nur ein paar hundert Meter vom großen Erdrutsch entfernt. Alles, was sie bekommen hat, musste sie selbst den Berg hinaufgetragen. Das Sträßchen, das einmal nach Bail führte, ist an mehreren Stellen verschüttet. „Wir haben die Soldaten gefragt, ob sie das nicht räumen könnten. Aber sie sagen, der Weg sei für ihren Bulldozer zu schmal.“

Nach dem ersten Schnee Anfang Januar ist das Zelt von Shanaz unter der nassen Last zusammengebrochen. „Wir brauchen dringend Wellblechplatten, um einen Unterstand zu bauen. Die Armee sagt, die Katastrophenhilfe werde bald welche bringen.“ Wellblech ist derzeit Mangelware in Kaschmir. Regierung und UNO hatten noch im Januar die Weltgemeinschaft um Zelte gebeten. Niemand dachte daran, dass diese auch gegen die Schneemassen geschützt werden müssen. Nun hat die Regierung sogar den Import von Wellblech aus Indien erlaubt. Zunächst einmal nur bis zum nächsten Frühjahr, wenn der Schnee schmilzt. Dann aber soll eine zweite Buslinie zwischen dem pakistanischen und dem indischen Teil Kaschmirs eingerichtet werden. Die Straße, die von Muzaffarabad das Jhelum-Tal hinauf auf die indische Seite führt, soll für den Güterverkehr geöffnet werden.

Das ist noch keine richtige Entspannungspolitik. Aber immerhin: Ein bisschen Vertrauen wird gebildet. Es wird schwer sein, diese kleinen Schritte wieder rückgängig zu machen. Pakistan braucht die internationale Hilfe. Und Kaschmir steht nun unter Beobachtung. Zwei Jahrzehnte lang hat die Regierung in Islamabad Ausländer aus der Region herausgehalten. Jetzt sind hunderte von Helfern dort. Shanaz kann sich daran erinnern, schon als Kind einmal Europäer gesehen zu haben. Für ihre Nichte jedoch sind solche Begegnungen noch neu. Sie ist fasziniert von den großen weißen Männern, die mit ihr hinaus auf die Geröllhalde geklettert sind. Die kein Urdu sprechen und viele Fragen auf Englisch stellen. Sie sucht den Blickkontakt, doch wenn sie ihn findet, zieht sie schnell den Schleier vors Gesicht. Die Tante hält sie fest, streicht ihr über den Kopf. „Es wurden nur wenige Leichen geborgen“, sagt Shanaz. „Meine Schwester liegt immer noch hier unter den Steinen. Manchmal glaube ich, ich könne sie riechen.“ Dann schweigen Tante und Nichte.

Unten im Tal haben die herabgestürzten Erdmassen einen Damm gebildet, fast hundert Meter hoch. Der dahinter gestaute Bach hat einen See gebildet. Der Pegel steigt. Auf dem Damm arbeitet einsam ein Bulldozer. Er schiebt Erde hin und her; versucht, einen Abfluss zu öffnen, bevor der Wasserdruck des Stausees zu groß wird und der Damm als Schlammlawine das Tal hinunterrast. Eine gewaltige Aufgabe für einen Bulldozer. Es wird Jahre dauern, bis Kaschmir wieder aufgebaut ist.