Impfzwang für alle?
Ja

PIKS Von wegen harmlose Kinderkrankheit – über 1.000 Deutsche sind dieses Jahr an Masern erkrankt, nur 37 Prozent der Kleinkinder ausreichend geimpft. Politiker wollen das ändern

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Eckart von Hirschhausen, 45, ist Arzt, Komiker, Autor und Moderator

Impfen ist ein Naturheilverfahren aus dem alten China. Kein Witz! Das Prinzip, mit einer harmlosen kontrollierbaren Injektion eine schlimme Krankheit zu verhindern, ist genial. Wenn wir hierzulande „Kinderkrankheiten“ nicht mehr ernst nehmen, dann ist das ein Erfolg der Impfprogramme, weil die schlimmen Verläufe selten geworden sind. Wenn das Immunsystem am Echten lernen soll, hat es bei Hunderten von Viren, gegen die man bis heute nicht impfen kann, ausreichend Gelegenheiten, einschließlich Hepatitis C, HIV und Herpes. Und „Masernpartys“ sind nicht die Antwort, sondern vorsätzliche Körperverletzung.

Jens Spahn, 33, CDU, ist gesundheitspolitischer Sprecher der Unionsfraktion

Bei hochansteckenden Krankheiten wie Masern ist die Impfung der einzig sinnvolle Schutz, um nicht zu erkranken, aber auch um die Ausbreitung zu verhindern. Wir wollen zwar niemanden zur Impfung zwingen, aber in öffentlichen Einrichtungen wie Kita oder Schule sollte es eine Impfpflicht geben. Nicht zuletzt um die Kinder zu schützen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden dürfen. Die weltweite Ausrottung der Masern darf nicht an den meist gut situierten Impfgegnern in Deutschland scheitern.

Wolfram Hartmann, 68, ist Präsident des Verbands der Kinder- und Jugendärzte

Viruserkrankungen wie Masern, Mumps, Windpocken oder Kinderlähmung lassen sich durch konsequentes Impfen wirksam verhüten und sogar ausrotten. Alle Kinder haben ein Recht darauf, durch Impfungen vor solchen Erkrankungen und ihren oft schwerwiegenden Folgen geschützt zu werden. Hier gibt es eine staatliche Fürsorgepflicht (Artikel 24 der UN-Kinderrechtskonvention). Um die von der Weltgesundheitsorganisation angestrebte weltweite Ausrottung der Masern zu erreichen, ist eine Durchimpfungsrate von wenigstens 95 Prozent in der Bevölkerung anzustreben, um auch solche Menschen vor einer Infektion zu schützen, die aus medizinischen Gründen nicht geimpft werden können.

Urte Blankenstein, 69, war Frau Puppendoktor Pille im DDR-Fernsehen

Wer gut geimpft durchs Leben geht, gefährdet auch andere nicht. Ich würde nicht von Zwang sprechen, sondern von einer Pflicht. Schließlich gibt es auch keinen Schulzwang, sondern eine Schulpflicht, und im Auto halten sich inzwischen auch alle an die Gurtpflicht. Wer die „Freiheit“ der Entscheidung hat, entwickelt logischerweise auch einen Egoismus, aber der Luxus des Nichtimpfens ist nur möglich, weil Geimpfte die Nichtgeimpften mitschützen.

Marlies Volkmer, 65, SPD, ist stellvertretende Sprecherin für Gesundheit

Ein hoher Durchimpfungsgrad der Bevölkerung ist wichtig für diejenigen, die nicht geimpft werden können, wie Säuglinge und Menschen mit Immunschwächekrankheiten. Auch bei „Kinderkrankheiten“ können schwerwiegende Komplikationen auftreten. So sind Hirnhautentzündungen, geistige Behinderung oder sogar Tod mögliche Folgen einer akuten Masernerkrankung. Nur durch eine Impfpflicht können wir das individuelle und das gesellschaftliche Risiko von Masern, Mumps und Röteln wirksam reduzieren.

Nein

Ulrich Gassner, 56, ist Professor für öffentliches Recht an der Universität Augsburg

Ein Impfzwang für alle beeinträchtigt die Grundrechte der körperlichen Unversehrtheit und der Selbstbestimmung. Die Pflicht zum Schutz gegen sich selbst ist nur ausnahmsweise verfassungsgemäß. Eine solche Ausnahme bildet die individuelle Entscheidung gegen die Impfung, weil sie notwendig drittbezogen ist. Damit ist das Grundrecht auf Leben gefährdet. Deshalb kann Impfzwang grundsätzlich mit dem Grundgesetz vereinbar sein. Allerdings gibt es derzeit keine Rechtsgrundlage für die Einführung einer Impfpflicht. Auch sind weniger belastende Maßnahmen vorstellbar, um eine zu niedrige Impfquote zu erhöhen. Impfzwang ist das fantasielose Mittel des totalen Präventionsstaats.

Kathrin Vogler, 49, Die Linke, ist im Vorstand des Gesundheitsausschusses

Patienten und Ärzte brauchen gegenseitiges Vertrauen, das durch eine Impflicht unterhöhlt würde. Mir wäre es lieber, wenn wir Eltern von der Sinnhaftigkeit der Impfung ihrer Kinder überzeugen könnten. Dazu ist es notwendig, dass wir die Kommerzialisierung im Gesundheitswesen zurückdrängen. Viele Menschen haben nicht zu Unrecht den Verdacht, dass manche medizinischen Maßnahmen nicht vorrangig zur Heilung von Patientinnen und Patienten durchgeführt werden, sondern um den Profit der Pharmaindustrie zu steigern.

Cornelia Bajic, 48, ist Vorsitzende des Zentralvereins homöopathischer Ärzte

Homöopathische Ärzte sind keine Impfgegner. Wir sprechen uns aber für individuelle Impfentscheidungen aus. Impfungen können in Einzelfällen schwerwiegende Reaktionen und Schäden hervorrufen. Eine Diskussion über Nutzen und Risiken von Impfungen muss legitim sein. Jede Impfung ist juristisch eine Körperverletzung, die nur dann straffrei ist, wenn der Patient zustimmt. Diese Entscheidung kann Patienten weder vom impfenden Arzt noch von einer öffentlichen Empfehlung abgenommen werden.

Wilm Quentin, 33, ist Arzt und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Berlin

In Deutschland gibt es auch ohne Impfzwang hohe Impfraten. Die Anzahl der eingeschulten Kinder mit zwei Masernimpfungen ist zwischen 2001 und 2011 von unter 30 auf über 90 Prozent gestiegen. Hartgesottene Impfgegner würden sich kaum durch einen Impfzwang überzeugen lassen, zumal es unklar ist, welche Strafmaßnahmen eingesetzt werden müssten: Kürzung des Kindergelds? Ausschluss von öffentlichen Schulen? Bessere Aufklärung ist gerade bei den eher gebildeten Eltern, die in Deutschland das größte Problem darstellen, die beste Möglichkeit, um höhere Impfraten zu erreichen.

Sandra Köhrich, 27, ist taz-Leserin und hat unseren Streit per Mail kommentiert

Ich denke nicht, dass Deutschland eine Impfpflicht braucht. Was wir aber brauchen, sind Kinderärzte, die sich die Zeit nehmen, die Eltern wirklich über die Vorteile und auch mögliche Risiken des Impfens aufzuklären. Andernfalls fällt es Impfkritikern natürlich leicht, junge Eltern zu beeinflussen. Auf der anderen Seite kann man sich als Eltern auch fragen, warum es denn notwendig ist, das Baby schon mit drei Monaten zu impfen und nicht erst mit einem Jahr, wenn das Kind ein ausgereifteres Immunsystem hat.