„Der Zweifel ist vielleicht das kostbarste europäische Kapital“

Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Adolf Muschg über die Notwendigkeit einer philosophischen Revolution, die Beweglichkeit der Identität und europäische Bewusstseinsbildung

taz: Seit der Ablehnung der EU-Verfassung in Frankreich und den Niederlanden gehört die Aufforderung, die Bürger und Bürgerinnen von Sinn und Zweck der europäischen Einigung zu überzeugen, nahezu zum guten Ton. Warum merkt man davon in der Praxis zu wenig?

Adolf Muschg: Nachdem der große Graben zwischen Frankreich und Deutschland überbrückt war, ist eine ähnliche Anstrengung mit dem zweiten großen Graben fällig, der durch den eisernen Vorhang markiert war. Und da herrschen nicht nur zwei Geschwindigkeiten, sondern verschiedene Erwartungen und verschiedene Mentalitäten. Und wenn Sie mich als Schweizer fragen, finde ich das alles ganz wunderbar. Ich finde es wunderbar, dass das doppelte Nein dazu geführt hat, dass die Europäer anfangen, für sich selber ein Problem zu werden. Aber zugleich wissen, und das ist ja das Beste an der Geschichte, dass keines dieser Neins die europäische Union in Frage gestellt hat. Sondern es geht jetzt um einen zivilen und, wie ich es sehe, vor allem kulturellen Nachholbedarf.

Gleichzeitig stellen sich ganz praktische Fragestellungen: Angesichts der anstehenden Verlagerung der Arbeitsplätze bei Elektrolux von Deutschland nach Polen und Italien mehren sich die Stimmen, die fordern, dass die EU einen internen Kampf um Produktionsstätten verhindert.

Es zeigt sich natürlich, dass die Globalisierung nicht nur in der ganzen Welt, sondern auch bei uns stattfindet. Und die erscheint innerhalb der EU-Grenzen besonders provokativ, weil man denkt, dass die EU eine gegenseitige Versicherungsgemeinschaft ist. Aber das ist wohl eine Illusion. Wenn ich bei diesen Hauptfragen der Zeit – wie man das Eigentum wieder sozial verpflichten kann, wie man die dem Gewinn nachströmenden Geldströme so kanalisieren kann, dass keine Sozialwüsten entstehen – wenn ich da eine Antwort wüsste, wäre ich das Orakel von Delphi.

Noch einmal nachgefragt: Wie hilfreich ist eine Annäherung über die Kultur bei solchen Orakel-Fragen?

Ein kultureller Befund schließt ein, dass ein Gebilde, auch ein staatliches, mit seiner eigenen Endlichkeit rechnen lernt. Dass es nicht nur von Versprechen von Wahlperiode zu Wahlperiode lebt, sondern tatsächlich die Leute auch reif macht für, mit Verlaub, letzte Fragen. Was fange ich mit meinem Geld an? Welchen Sinn hat Wachstum? Es ist nicht per se ein Wert und es produziert nicht notwendigerweise neue Arbeitsplätze. Also brauchen wir ein neues Verständnis von Arbeit und ein neues Verständnis von Lohn. Da ist philosophisch noch ganz viel zu tun – und das Philosophische ist enorm praktisch.

Wie geht dieses Vertrauen in die orientierende Kraft von Kultur zusammen mit der Skepsis, die Sie gegenüber einem kulturellen Fundament Europas geäußert haben?

Aber doch ein bisschen weniger Zweifel als an der Tragfähigkeit einer wirtschaftlichen Basis. Ich habe in diesen Vorlesungen auch gesagt, dass Zweifel und die Bereitschaft zum Zweifel vielleicht das kostbarste europäische Kapital ist, das wir überhaupt haben. Mit dem Zweifel hat man in Griechenland angefangen, mit dem Zweifel hat auch die Wissenschaft angefangen.

Verstehe ich Sie recht, dass Ihr Zögern einer wie auch immer auf einen Nenner zu bringenden europäischen Kultur gilt – und Sie vor allem für eine politische Kultur plädieren?

Wenn wir jetzt im alten Athen im fünften vorchristlichen Jahrhundert säßen, würde man diesen Gegensatz zwischen Politik und Kultur gar nicht verstehen. In der kurzen Zeit, wo Athen eine Art Modell für die Menschheit gewesen ist, war es das ebenso als kulturelle wie als politische Größe. Ich glaube, dass wir in der Tat so etwas wie eine philosophische Revolution brauchen, die damit anfängt, dass wir das andere mögen, dass wir uns für das andere interessieren und erkennen, dass Identität ein beweglicher Begriff ist.

Ein Teil Ihrer Kritik an der Akademie der Künste, von deren Vorsitz Sie kürzlich zurückgetreten sind, lag im mangelnden Interesse an Europa. Gibt es Orte, wo genau diese Diskussion bereits gepflegt wird?

Es gibt gerade in Deutschland schon Impulse. Vor einem Jahr gab es die Konferenz „Europa eine Seele geben“ in Berlin, das war ein Austausch von allem, was gut und teuer ist an europäischen Würdenträgern. Ich stelle mir vor, dass es sehr gut wäre, wenn die Akademie, die mit sich und den Räumen am Pariser Platz zur Zeit so wenig anzufangen weiß, sagte: Das ist ein Zentrum für Europäische Bewusstseinsbildung. Wo man nicht nur mit Symposien, sondern auch mit künstlerischer Praxis ernst machte mit all diesen Fragen.

Steht dem vielleicht die deutsche Furcht entgegen, mit einer solchen Rolle alte Befürchtungen der Nachbarn vor deutscher Dominanz zu schüren?

Ich denke, das ist eine zu ehrenhafte Unterstellung. Ich glaube, es fällt den Leuten einfach zu wenig ein.

Interview: Friederike Gräff