Restaurators Alptraum

Mit Schokoladenlandschaften und Salami-Sonnen schlug Dieter Roth dem Museumsbetrieb ein Schnippchen. Der neue Weserburg-Chef Carsten Ahrens erforscht Roths „inneren Pulsschlag“

Sie hängen mittlerweile so schlaff in der Pelle, dass sie eine Stütze von unten brauchen. Der brüchige, vergilbte Plastikdarm der „Literaturwürste“ hält das Gewicht der Füllung nicht mehr alleine. Innen drin: eine sachgerechte Wurstzubereitung auf der Basis von geschredderten Zeitschriften.

Dieter Roths Werke sind der Albtraum der Restauratoren. Der Fluxus-bewegte Künstler, der zeitlebens gegen den Kult um Meisterwerke anstänkerte und schon mal Besucher hinauswarf, wenn sie sich als Kunsthistoriker outeten, schenkt Museen auch posthum nichts. Seine Schokoladenskulpturen aus den sechziger Jahren haben mittlerweile eine sandige Konsistenz angenommen, gelb und krümelig. So sieht die Puppe, die er kopfüber in einen Schokoladenzylinder eingegossen hat, heute aus, als würde sie ihren Kopf in Sand stecken.

Carsten Ahrens, der das Museum seit November leitet, hat die erste von ihm kuratierte Ausstellung dem Weserburg-Urgestein Roth gewidmet. Mit der Sammlung Maria und Walter Schnepel hat das Museum eine der größten Roth-Sammlungen in seiner Obhut. Alte Bekannte aus der Dauerausstellung gesellen sich jetzt zu jüngsten Erwerbungen der Schnepels. Mehr als die Themenstellung soll das Ausstellungsdesign frischen Wind in die Weserburg bringen: Es ziehen Farben, Töne, didaktisch bewegte Bilder ein. Die bisher erhaben weiß gehaltenen Weserburg-Wände sind revolutionär bunt gestrichen. Über den Werken prangen Textfragmente von Roth in gewichtigen Lettern, von denen man nicht recht weiß, ob man hier einem Philosophen begegnet oder ganz gewaltig verschaukelt wird. „Ich, D.R., der als Richard Wagner auferstandene Hölderlin“, ist da zum Beispiel zu lesen. Auf poetische Weise will Carsten Ahrens die Künstler als gesellschaftliche Kommentatoren vorstellen. Um einen „inneren Pulsschlag“ gehe es, keinesfalls um eine „buchhalterische Retrospektive“, die chronologisch die Schaffensphasen nachzeichnet. Die zweite Gelegenheit zum Pulsmessen bietet sich schon am Samstag, wenn Ahrens die Gotthard-Graubner-Ausstellung eröffnet.

Die programmatische Assemblage von Werkzeugen aus der Künstlerwerkstatt, die hier nicht dem Entstehen eines Werkes dienen, sondern sich selbst zu einem Anti-Meisterwerk zusammenfinden, wird mit beiläufig gestalteten privaten Briefen konfrontiert. „Roth hätte das gefallen“, ist Ahrens überzeugt. Neben den vergnüglich-vergänglichen Installationen werden ganz andere Seiten des Künstlers sichtbar: der fein-ironische Graphiker und der strenge Konstruktivist. Sein Kinderbuch ist ein sprödes Spielzeug aus Farben und Formen, die sich beim Blättern zu neuen Durchblicken und abstrakten Konstellationen zusammenfügen. Man atmet durch, wenn man zu den Wurstscheiben-Sonnenuntergängen zurückkehrt. „Einfach schön“, schwärmt Ahrens angesichts der fettigen Spuren, die sich – von der Salami-Sonnenscheibe ausfließend – zu einem rostrot brennenden Himmel formieren. Rätsel gibt das „Currant-mould-picture“ auf. Sind die hinter dem Glas aufgeschütteten Johannisbeeren wirklich zu diesen prächtigen giftgrünen Schlieren geschimmelt? Oder sollte der Künstler mit Farbe nachgeholfen haben? Ahrens zuckt die Schultern. „Da streiten sich die Exegeten.“ Annedore Beelte

Bis 23. April, Neues Museum Weserburg