Angriff der gefiederten Freunde

Wenn das Vertraute unheimlich wird: Die Vögel, kulturhistorisch eigentlich Symbole der Freiheit und Fruchtbarkeit, sind zur tödlichen Bedrohung geworden

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

Die Vögel sind unter uns. Seitdem das Grippevirus H5N1 Deutschland erreicht hat, verbreiten die harmlosen Piepmätze, deren Gesang uns normalerweise in heitere Stimmung versetzt, Angst und Schrecken. Tatsächlich ist die seltsame Panik, die mit der Bezeichnung Vogelgrippe aufgekommen ist, erklärungsbedürftig. Ist doch, nach allem, was man weiß, jede andere, „normale“ Grippeepidemie weit gefährlicher.

Woran also entzündet sich die Aufregung? Etwa an den Vögeln? Fast automatisch möchte man widersprechen. Sind die Vögel denn nicht seit Urzeiten die trostreichsten und getreuesten mythologischen Helfer des Menschen, ja, in einigen Fällen sogar soziales Vorbild? „Machen wir’s den Schwalben nach, / bau’n wir uns ein Nest“, heißt es im operettenhaftem Schwung des 19. Jahrhunderts. Nestbau und Brutpflege: in den entscheidenden familiären Werten sind uns die gefiederten Freunde zu Symbolen von Fürsorglichkeit und Gemütlichkeit geworden. Das Spektrum der positiven Symbolbedeutungen des Vogels reicht freilich erheblich weiter – und ist, kulturübergreifend, uralt. Für die christliche Tradition mag der Hinweis auf jene berühmte Taube reichen, die Noah während der Sintflut aussandte, um festzustellen, ob Land in Sicht sei. Mit einem Ölzweig im Schnabel kehrte sie zurück – und darf seither als Symbol der Hoffnung und des Friedens durch die Welt flattern. In der altägyptischen Tradition standen die Vögel für das Flüchtige, den „Geist“, den römischen Auguren war ihr Flug Weissagung der Zukunft, und die germanische Mythologie lässt Raben dem göttlichen Oberhaupt Odin unerhörte Weisheiten ins Ohr flüstern. Als schamanistische Helfertiere verkörpern sie Hoffnung, Weisheit und Frieden, als politische Symbolwesen nicht zuletzt auch Macht: Der Adler ist zweifellos weltweit das beliebteste Wappentier für Länder und Nationalstaaten. Und dabei ist die offenkundigste symbolische Qualität immer noch nicht genannt: Als Bewohner des Himmels in handgreiflicher Nähe zur Transzendenz lebend und ausgestattet mit der Gabe, die Schwerkraft zu überwinden, repräsentieren die Vögel wie kein anderes Symboltier die Freiheit. „Frei wie ein Vogel“ sagt man, um absolute Ungebundenheit auszudrücken.

Tatsächlich, die Vögel begleiten uns als symbolische Repräsentanzen durch alle Zeiten und Kulturen und vor allem: durch das ganze persönliche Leben. Von der Wiege bis zur Bahre, vom Klapperstorch bis zum Schwanengesang. Eben mit dieser Verbindung der Extreme scheint jedoch auch die andere, die dunkle Seite der Vogelimago zusammenzuhängen. Es gibt kein wirklich starkes Lebenssymbol, das seine Kraft nicht aus der Teilhabe am Gegenteil, dem Tod, bezieht. Am stärksten ist der Zusammenhang da, wo sich Leben und Tod zu einer neuen Qualität vereinen: der Idee der Wiedergeburt. Auch dies repräsentiert ein legendärer mythologischer Vogel, der Phönix, der verbrennt und sich sterbend triumphal neu hervorbringt. Auch wenn man dem pseudoanalytischen Symbolkonkretismus nicht folgen mag: Der Zusammenhang vom „kleinen Tod“ des sexuellen Orgasmus beim Akt (der umgangssprachlich nicht umsonst „Vögeln“ heißt) und seinem Produkt liegt auf der Hand: Alle Geburt ist, aus der Perspektive der Erzeuger, eine Wiedergeburt (unserer selbst), ein Salto mortale, ein Sprung über den Tod. Aber somit zugleich doch immer auch eine Gewärtigung des Todes, ein Zitat dessen, was wir aus unserer psychischen Realität ängstlich und gründlich ausschließen wollen.

Nehmen wir aus der Fülle kulturhistorischen Materials ein prominentes Beispiel der Moderne. Vom Surrealisten Max Ernst ist seine besondere Vorliebe für die Vogelwelt bekannt. Nicht nur, weil er sich auf Kostümfesten gerne als Vogel verkleidete und wegen seines scharfen Profils und Blicks mit einem Adler verglichen wurde: Sein Werk ist voll von mythischen Vogeldarstellungen, insbesondere von seltsamen Mischwesen aus Vogel und Mensch. Die immer wiederkehrende Schlüsselgestalt dieser künstlerischen Vogelliebe ist der legendäre, von Ernst als „König der Vögel“ kreierte und gefeierte Loplop, der für ihn durch sein gesamtes Schaffen hindurch gleichermaßen tierisches Alter Ego wie Selbst-Bild war. Solche Symbolfreundschaften sind in der surrealistischen Bewegung keine Seltenheit. Max Ernst jedoch hat in seinen späten biografischen Notizen das psychologisch aufschlussreiche Initialerlebnis dieser Vogel-Idolatrie mitgeteilt. Unter der Überschrift „First contact with occult, magic and witchcraft powers“ schildert er eine Kindheitsszene, in der der Tod seines Lieblingsvogels, eines Kakadus, mit der Geburt seiner Schwester Loni zusammenfiel. Auf diese Koinzidenz reagierte er mit hysterischen Anwandlungen, Halluzinationen und Depressionen, die nach seiner Einschätzung die später seine Kunst bestimmende Verwirrung von Vögeln und Menschen zur Folge hatten.

Max Ernst hat damit eine Erkenntnis der Psychoanalyse gelebt und ihr eine eigene künstlerische Form gegeben: des Vogels als Imago der Metamorphose, als ambivalentes Symbol von Leben, Tod und Auferstehung. Loplop, sein selbst geschaffener König der Vögel, ist die Vereinigung einer Licht- mit einer Schreckensgestalt, die Geschichte der lebenslangen ästhetischen Bearbeitung dieser Gestalt ein Paradigma für die Ambivalenz der Gefühlsregungen.

Wie sehr sich die Vögel für die Demonstration dieser Ambivalenz eignen, hat niemand drastischer vorgeführt als Alfred Hitchcock. Die Idee, unsere harmlosen gefiederten Freunde als tödliche Rächer der menschlichen Hybris zu nehmen, entstammt dem Geist einer apokalyptischen Vision. Wenn die Symbolwesen der Freiheit und Liebe, des Friedens und des Lebens sich plötzlich die Freiheit nehmen, den Menschen den Krieg zu erklären und den Tod zu bringen, dann ist eine universelle Schieflage der Welt angezeigt. Müßig, darüber zu rätseln, ob Hitchcock vor mehr als 40 Jahren schon eine Idee der ökologischen Katastrophe hatte. Aufschlussreich ist hingegen, dass der Meister des filmischen Horrors zielsicher die Idee aufgriff, gerade so eminent freundliche und harmlose Wesen wie die Vögel als todbringende Vehikel aggressiver Impulse zu nutzen. Der Inbegriff des Unheimlichen, auf dem jeder Horrorfilm basiert, ist die Metamorphose: dass sich etwas Vertrautes in feindlich Fremdes, Gutes sich in Böses verwandeln kann. Nichts ängstigt mehr, als solch plötzliches Aufbrechen einer bislang verborgenen Natur. Das Unheimliche, so hatte Freud herausgefunden, ist eben nichts Neues oder Fremdes, „sondern etwas dem Seelenleben von alters her Vertrautes, das ihm nur durch den Prozess der Verdrängung entfremdet worden ist“. Das Vertraute als tödliche Bedrohung – ist es nicht das, was wir alle am meisten fürchten? Und heute möglicherweise mehr als jemals zuvor. Mag die Bedeutung von Imagines un- oder überhistorisch sein, so ist doch ihre Lesart je nach geschichtlichem Kontext unterschiedlich. Ob die janusköpfigen Symbole des Lebens und Sterbens nach dieser oder jener Seite hin ausgelegt werden, ist ein wichtiger Indikator für die psychische Verfassung eines Kollektivs.

Im Deutschland von 2006 jedenfalls ist der Vogel als Trägergestalt des neuen Grippevirus eindeutig mit der hollywoodesken Panik, mit der Vorstellung eines mit Schwingen vom Himmel getragenen, uns alle bedrohenden Todes als Strafe besetzt. Das ist in erster Linie ein Resultat der Mediendarstellung. Aber es wird doch von einem genuinen Grundgefühl getragen: der untergründigen Angst, die Natur schlage, nachdem wir sie lange Jahre gewissenlose ausgebeutet haben, zurück. Und zwar nicht mehr so „unpersönlich“ wie bei den sattsam bekannten Flutkatastrophen, Erdbeben oder Lawinenunglücken. Sondern in Gestalt derer, die uns in der Schöpfung am nächsten stehen. Dass die Naturbeherrschung, auf der unsere Kultur beruht, nie vollständig gelingen kann, ist eine weitgehend verdrängte, aber permanent wirkende Angst. Sie dadurch im Zaum zu halten, dass man ihr eine Gestalt gibt, ist der Grund für die vielfältigen Anthropomorphismen, mit denen wir uns in Mythen und Symbolisierungen nicht weniger als im Alltag die fremde Natur der Tierwelt anverwandeln und ihre Bewohner zu beherrschbaren Vertrauten machen. Wenn sie aus dieser symbolischen Einhegung ausbrechen, ist Krise angesagt. Denn die Bedrohung, die die Mutation des Vogels zum Todesboten darstellt, rührt an die noch viel tiefer liegende Urangst der Gattung Mensch: die Angst des Herren der Schöpfung, vom eigenen tierischen Erbe überwältigt zu werden.