Geschlossene Heime abschaffen?
Ja

THERAPIE Geschlossene Heime gelten als letzte Chance für Jugendliche, bei denen alle anderen erzieherischen Maßnahmen versagt haben. In Einrichtungen wie der Haasenburg sollen sie zur Ruhe kommen – stattdessen berichten ehemalige Bewohner und Mitarbeiter von Isolation und Körperverletzung

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Michael Lindenberg, 59, ist im Bündnis gegen geschlossene Unterbringung

Geschlossene Heime waren gestern. Die dunklen Jahre der Heimerziehung in der BRD der 50er und 60er Jahre sowie in der DDR sind Vergangenheit. Die damaligen Zöglinge erhalten heute Entschädigungen. Gut so. Geschlossene Heime sind geschlossene Anstalten. Die Durchsetzung von Regeln und das Verhindern des Weglaufens stehen ganz oben. Erst dann kommt die Erziehung. Sie kann aber unter Bedingungen der Gewalt nicht funktionieren. Der Gesetzgeber hat Gewalt in der Erziehung verboten. Die Kinder lernen lediglich, mit Zwang und Gewalt umzugehen, aber nicht mit der Freiheit, auf die sie durch Erziehung vorbereitet werden sollen.

Mirijam Günter, 30, ist Schriftstellerin und ehemaliges Heimkind

„Ich habe mir Sorgen gemacht, verstehst du das denn nicht?“, frage ich einen Jugendlichen bei einer Literaturwerkstatt, der vorher abgehauen war. Nein, er versteht es nicht. Wie auch? Um ihn hat sich nie einer Sorgen gemacht. Irgendwann holte er sich Hilfe, haut aber immer wieder aus dem Heim ab. Und so einem Jungen soll nun in einem geschlossenen Heim geholfen werden? Was soll er dort kennenlernen? Liebe und Geborgenheit? Er denkt: Sie bestrafen mich, keiner vermisst mich, vielleicht bin ich doch ein schlechter Junge. Viele Menschen leiden auch Jahrzehnte später darunter, im Heim aufgewachsen zu sein. Was passiert dann erst mit diesem Jungen, der im geschlossenen Heim aufwächst? Unsere Gesellschaft schreit nach mehr Kindern. Wie wäre es, wenn wir uns erst mal um die vernünftig kümmern würden, die schon da sind?

Karl Heinz Brisch, 58, ist Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Kinder, die in geschlossenen Heimen untergebracht sind, haben meistens seit ihrer Säuglingszeit vielfältige und teilweise extreme Traumatisierungen erlebt, wie verschiedene Formen von Gewalt und emotionale Vernachlässigung. Das sind die Ursachen, warum sie oft nur durch aggressives Verhalten (sich selbst und anderen gegenüber) versuchen, ihren Stress zu regulieren. Sie wegzusperren, verhilft den Kindern nicht zu einer gesunden Entwicklung, weil die Gewalterfahrung in den Heimen – durch die Kinder untereinander oder durch das Personal – teilweise weitergeht. Diese Kinder brauchen eine bindungsbasierte Therapie, in der sie durch haltende Beziehungen neue Erfahrungen im Eins-zu-eins-Kontakt machen können. Time-intensive statt Time-out! Erfahrungsgemäß entwickeln sich diese Kinder emotional besser und können leichter wieder in die Gesellschaft integriert werden.

Sabine Pankofer, 48, katholische Hochschule München, lehrt Psychologie

Geschlossene Heime dienen weniger den Kindern als ordnungspolitischen Diskursen. Sie sind extrem teure Spezialeinrichtungen, in denen in kürzester Zeit Probleme von und mit Kindern und Jugendlichen gelöst werden sollen, die jahrelang Probleme haben und gemacht haben. Nach jahrelang konstant bleibender Anzahl von ca. 100 Plätzen verdoppelte sich die Zahl in den letzten zehn Jahren – nicht zuletzt aufgrund öffentlicher Diskussionen um männliche Intensivtäter, mit denen argumentiert wurde, um weitere freiheitsentziehende Maßnahmen zu installieren. Dabei wird die Mehrzahl dieser neuen Maßnahmen vor allem für Mädchen genutzt werden. Studien zeigen, dass freiheitsentziehende Maßnahmen deutlich mehr als alle anderen Maßnahmen (bis zu 400 Euro am Tag!) kosten, aber genauso wirksam oder unwirksam sind wie andere intensive Mittel der Jugendhilfe.

Nein

Ina Muhß, 55, ist jugendpolitische Sprecherin der SPD im Landtag Brandenburg

Geschlossene Heime sind nicht die Mittel der ersten oder zweiten Wahl, aber können wir ausschließen, dass sie die Mittel der vorletzten Wahl sind? Denn es gibt Jugendliche, für die ohne die geschlossene Heimunterbringung nur noch die Psychiatrie oder der Jugendstrafvollzug infrage kommt. Geschlossene Heime sind auch zukünftig notwendig. Zweifellos müssen die dort angewandten pädagogischen Konzepte und Maßnahmen stetig evaluiert und weiterentwickelt werden. Eine engmaschige staatliche Kontrolle ist unerlässlich. Fälle, in denen geschlossene Unterbringung für über ein Jahr ohne Überprüfung erfolgt, sind unverhältnismäßig. Dennoch: Wer jetzt eine sofortige Schließung der Haasenburg-Heime fordert, muss auch sofort eine Alternative für die dort untergebrachten Jugendlichen benennen können.

Hanna Permien, 66, arbeitet für das Deutsche Jugendinstitut in der Abteilung Jugendhilfe

Zunächst mal: Es gibt keine vollständig geschlossenen Heime in Deutschland, sondern überall ist eine schrittweise Öffnung für ihre Bewohner vorgesehen. Der Einschluss ist ein Rahmen, um auch stark belastete Jugendliche pädagogisch zu erreichen, mit denen die offene Jugendhilfe nicht mehr arbeiten kann oder will. Aber: Heime, die mit Freiheitsentzug arbeiten, dürfen kein repressiver, demütigender, traumatisierender „Kinderknast“ sein! Sie müssen die Rechte der Jugendlichen auf persönliche Förderung, auf Mitbestimmung über den Heimalltag und bei der Gestaltung ihres weiteren Lebens wahren und sie bei der Entwicklung positiver Perspektiven unterstützen. Dies muss entsprechend überprüft werden! Dann können junge Menschen durchaus von „geschlossener Unterbringung“ profitieren!

Renate Schepker, 59, ist Chefärztin des Zentrums für Psychiatrie Südwürttemberg

Geschlossene Einrichtungen sollen Beziehungsfähigkeit herstellen. Etwa dann, wenn sich Jugendliche beim Aufkommen von Sehnsüchten und Konflikten immer wieder entziehen und so tief verunsichert sind, dass sie sich und der Menschheit keine Chance geben. Meist reicht es, Geschlossenheit zu erlauben, aber nicht zu vollziehen. Möglich bleiben muss sie dennoch. Kontakt nach draußen: so viel wie möglich! Das schafft Transparenz und schützt vor Machtmissbrauch. Geschlossene Einrichtungen müssen unter Mitwirkung der Betroffenen kontrolliert werden, Beziehungen konstant durch dieselben Personen gehalten werden. Das „Wegsperren“ – eigentlich ein „Hinsperren“ – ist ohne gleichzeitige gute Pädagogik nicht denkbar und damit sehr, sehr teuer.

Georg Litty, 39, ist taz-Leser und Heimerzieher in einer offenen Wohngruppe

Geschlossene Heime sind notwendig, um Jugendlichen helfen zu können, die ansonsten sich selbst oder anderen nachhaltig schaden würden. Das darf aber nur eine Notlösung sein, hier müssen besonders kompetente und gut bezahlte KollegInnen zum Einsatz kommen. Die lückenlose Kontrolle solcher Maßnahmen − unangemeldet und häufig, engagiert und fachkundig − sollte bei staatlich angeordnetem Freiheitsentzug auch bei Jugendlichen selbstverständlich sein. Jugendliche dürfen nicht bloß „abgestellt“ werden. In jedem Fall muss eine realistische Prognose und ein fundiertes individuelles Förderkonzept vorliegen. Mit ideologisch geprägten Abschaffungsforderungen ist niemandem geholfen. Dass ein einzelner Träger schlecht gearbeitet hat, ändert nichts an einem bestehenden Bedarf an entsprechenden Einrichtungen.