Psycho im Taschenkino

Mit „Der Fürst spricht“ war er als Ingeborg-Bachmann-Preisträger die Nachwuchshoffnung der deutschen Literatur. Jetzt liegt nach einer Vaterschaftspause sein neues Buch über einen paranoiden Briefeschreiber vor. Ein Besuch bei Jan Peter Bremer

VON ANDREAS RESCH

Als ich die Treppe des Altbaus am Mehringdamm hinaufsteige, kommt mir auf halbem Weg ein kläffendes, entfernt an eine Bulldogge erinnerndes Wesen entgegen, das auf den Namen Helga hört. Oben angekommen, steht mir dann der Mann gegenüber, der einmal als eine der großen Nachwuchshoffnungen der deutschen Literatur galt – spätestens seit er 1996 im Alter von 30 Jahren für seinen dritten Roman, „Der Fürst spricht“, den Ingeborg-Bachmann-Preis verliehen bekam.

In einer seltsamen Umkehrbewegung von Kafkas „Schloss“ handelt sein Erfolgsroman von einem paranoiden Fürsten, der seine Umgebung der Ermordung seines geliebten Hundes verdächtigt und sehnsüchtig das Erscheinen eines neuen Verwalters erwartet. Mit dessen Auftauchen tritt eine Folge merkwürdiger Geschehnisse ein, die im Selbstmord des fürstlichen Hofmeisters gipfelt. Im Jahr 2000 veröffentlichte Bremer dann mit „Feuersalamander“ noch einen hoch gelobten Roman, in dem ein Mann vor seiner Familie flieht, um in einem Café einen Postkartenroman zu schreiben, dabei aber grandios scheitert.

Bremer trägt dunkelblonde Locken (kann man dazu schon Afro sagen?), in jedem Ohr blitzt ein großer goldener Ring. Dann geht er erst einmal Tee kochen, was mir die Möglichkeit gibt, mich im Wohnzimmer umzusehen: Dielenboden, ein schwarzes Klavier, Bilder mit John und Yoko, Ledersofa, ein großer Globus. Und Bücher, Murakami, Rabelais, Hart-Nibbrig.

Nach einigen Minuten kommt Jan Peter Bremer zurück. „Die Wege in der Wohnung halten warm“, sagt er, während er mich herumführt. Je weiter wir uns vom Wohnzimmer entfernen, desto kälter wird es. Die Wohnung, in der Jan Peter Bremer mit seiner Frau und seinen beiden Kindern lebt, hat nur Ofenheizung – ich wundere mich nicht mehr, warum er über dem Rollkragenpullover auch noch einen Schal trägt. In der Küche hat es gefühlte fünf Grad – zum Glück ist der Tee fertig.

Jan Peter Bremer veröffentlicht mit „Still Leben“ nach sechsjähriger Schaffenspause wieder ein Buch, eine Art Briefroman. In dem Buch, das man, so Bremer, „nicht unbedingt der Schwiegermutter zu Weihnachten schenken würde“, geht es um einen Mann, der mit Frau und Kindern in ein kleines Haus zieht, das abgelegen auf dem Gipfel eines Berges steht. Er sitzt am Schreibtisch, beobachtet seine Familie und schreibt Briefe. Erst scheint alles in Ordnung zu sein. Nur das Unbehagen, das er empfindet, wenn seine Frau für ein paar Stunden ins Dorf fährt, ist ein Indiz dafür, dass hier etwas fundamental nicht stimmt.

Nach und nach schlägt die Idylle in Paranoia um. Der Protagonist beginnt, seine Familie zu verdächtigen, ihm schaden zu wollen. Immer wieder muss man sich erschließen, wovon er gerade spricht, denn irgendwann sieht man nur noch verzerrte Realitätsfragmente, die den Blick auf ein Ganzes versperren. „Still Leben“ ist ein schwieriges Buch, das einen quält und noch lange verfolgt.

Mit größter Selbstsicherheit fragt Jan Peter Bremer mich, ob ich das Buch komisch gefunden habe. Ich stocke kurz – und merke: Ja, bei aller psychotischen Düsternis, es gibt da etwas Slapstickhaftes, ich fand es lustig, manchmal.

Dann muss aber ich fragen: sechs Jahre Pause? Ich erwarte, etwas von Schreibblockade zu hören, von Schaffenskrise oder der Suche nach der eigenen literarischen Stimme. Als Jan Peter Bremer dann in ruhigem Ton von seiner familiären Auszeit berichtet, davon, wie er sich um die Kinder gekümmert hat, und über den Zeitraum von zwei Jahren kaum mehr Zeit zum Schreiben fand, wird klar: Dieser Mensch lebt – wie die Figuren in seinen Büchern – in seiner eigenen privaten Welt, es kümmert ihn nicht, ob er den Erwartungen des Publikums, des Buchmarkts und des Feuilletons gerecht wird.

Bei der Konstruktion des Buchs, sagt Jan Peter Bremer, habe ihn die Vorstellung vom Taschenkino inspiriert: jene kleinen Bilderheftchen, die beim schnellen Durchblättern einen Film erzeugen. Und so entsteht auch in „Still Leben“ die eigentliche Erzählung erst dann, wenn man die in sich geschlossenen Briefe in ihrer Abfolge betrachtet. Wenn Jan Peter Bremer spricht, schaut er einem direkt in die Augen und bricht gern in schallendes Gelächter aus. Lachend berichtet er auch, dass das Buch ursprünglich ein „Postkartenroman“ werden sollte – „weil ich einem Freund aus dem Urlaub dauernd Postkarten mit ausgedachten Geschichten geschickt habe“. Zugleich erinnert die Idee mit den Postkarten an „Feuersalamander“ und seinen scheiternden Protagonisten, der am Schluss „Ich werde nie wieder ein Wort schreiben!“ aus dem Zugfenster brüllt. Angesprochen auf den seltsamen Zusammenhang lächelt Jan Peter Bremer und zuckt mit den Schultern.

Als er später noch vom Schlittenfahren vor einigen Wochen erzählt, sagt er mit getragener Stimme: „Ich bin ein begeisterter Rodler“ – und fügt nach kurzer Pause hinzu: „Im Übrigen ist Schreiben ja auch wie Schlittenfahren.“ Man sieht geradezu, wie er den Feuilletonisten vor sich sieht, der diese Sätze begeistert mitschreibt. Trefflich ließe es sich nun sinnieren: „Beides kann mitunter holprig sein“ – „Eine Talfahrt mit ungewissem Ausgang“ – „Es dauert lange, bis man den Berg erklommen hat, umso schneller ist man wieder unten“. Und wieder lacht Jan Peter Bremer – er ist ein Mensch, der sich auf angenehme Weise nicht allzu ernst nimmt. Das zeigt auch die Widmung, die er „Still Leben“ vorangestellt hat: „Für Helga, die mit unerschöpflicher Geduld die Entstehung dieses Buches begleitet hat.“

Jan Peter Bremer: „Still Leben“. Berlin Verlag, Berlin 2006, 96 Seiten, 16 €