Wir rekonstruieren nicht!

GLEICHBERECHTIGUNG Wir Piraten wollen Individuen nicht in Geschlechterkategorien einsortieren. Und wir wissen, dass die meisten in unserer Partei das auch so sehen

Der Anfang: Vor mehr als zwei Wochen richtete Lena Simon, Piratin in Berlin, eine Mailingliste nur für weibliche Mitglieder ein. Daraufhin entbrannte in der Partei ein Gender-Streit.

Der Angriff: Anna Berg vom feministischen Blog Mädchenmannschaft kritisierte die Piraten und forderte an dieser Stelle eine „Gender-Debatte für das Netz“ (taz vom 12. 3. 2010).

Die Antwort: Zwei Piratinnen des Berliner Landesverbandes reagieren mit diesem Text auf die Forderung. Sie wollen Geschlecht als Kategorie überwinden.

VON L. ROHRBACH
UND M. SCHAUERHAMMER

Das ausdrückliche Bekenntnis zur Gleichberechtigung ist markant in der Satzung der Piratenpartei festgeschrieben. Die Partei „vereinigt Piraten ohne Unterschied der Staatsangehörigkeit, des Standes, der Herkunft, der ethnischen Zugehörigkeit, des Geschlechts, der sexuellen Orientierung und des Bekenntnisses, die beim Aufbau und Ausbau eines demokratischen Rechtsstaates und einer modernen freiheitlichen Gesellschaftsordnung geprägt vom Geiste sozialer Gerechtigkeit mitwirken wollen“, heißt es in § 1.

Keine Kategorien mehr

Wir wollen jedes Individuum so sehen, wie es sich selbst sehen und schaffen möchte – das heißt auch: ohne es in eine Geschlechterkategorie einzusortieren und daraus Schlüsse über seinen Kopf hinweg zu ziehen. Wir leben aber in einer Gesellschaft, in der Menschen aufgrund ihrer Anatomie unterschiedlich sozialisiert und sogar diskriminiert werden. Eine Partei muss sich dieser Tatsache stellen, die resultierenden Probleme erfassen und Instrumente entwickeln, sich ihrer anzunehmen. Viele herkömmliche Instrumente beteiligen sich jedoch – gewollt oder ungewollt – gerade an der Konstruktion von Geschlecht als Einordnungsmechanismus. Solche Instrumente betrachten wir äußerst kritisch.

Dabei leugnen wir keinesfalls bestehende Geschlechterkonstruktionen. Wir versuchen aber, uns möglichst nicht selbst an ihrer fortwährenden Rekonstruktion zu beteiligen. Denn erst wenn Individuen als Individuen und nicht mehr als Repräsentanten von Gruppen – zum Beispiel „Frauen“ oder „Männer“ – behandelt werden, ist Sexismus nachhaltig der Boden entzogen und der Weg zu einem selbstbestimmten Pluralismus geebnet.

Unsere Hierarchien sind so flach wie möglich, und die Meinungs- und Informationsfreiheit zählt zu unseren Grundwerten. Debatten werden deshalb nicht unterdrückt, sondern leidenschaftlich geführt. Zu Genderthemen geschieht dies zum Beispiel in der AG Gender, der AG Frauen, der AG Männer, der AG Queeraten oder der AG Gleichberechtigung in der Gesellschaft. Gearbeitet wird unter anderem an Entwürfen zur Sozial- und Familienpolitik, die anerkennen, dass es so viele Lebensentwürfe wie Menschen gibt und die Politik jede selbstgewählte Lebensform in gleicher Weise respektieren muss. Wer sich in keiner unserer Gruppen wiederfindet, kann jederzeit selbst eine Arbeitsgruppe gründen – bürokratische Hürden gibt es nicht, allein Transparenz und Offenheit müssen gewahrt sein. Jedes Mitglied kann Themen einbringen, Programmpunkte entwickeln und ist auf Parteitagen und gegenüber den Vorständen direkt anstragsberechtigt.

Mit der Arbeit an politischen Positionen ist natürlich noch nicht für die parteiinterne Gleichberechtigung gesorgt. Wir sind uns bewusst, dass niemand mit dem Eintritt in die Piratenpartei die eigene Sozialisation in einer nicht geschlechtergerechten Gesellschaft abstreift. Ebenso lässt sich mit einer schönen Satzung Diskriminierung nicht „wegdefinieren“. Wir haben daher Anlaufstellen geschaffen, die sich der Sorgen und Nöte einzelner Mitglieder annehmen: „Neuen an Bord“ stehen seit langem die Piratenlotsen mit Rat und Tat zur Seite. Das Squad Counselor hat sich gegründet, um persönliche Unterstützung zu leisten. Es ist auch Ansprechpartner, sollten tatsächlich einmal Fälle von Diskriminierung auftreten.

Frauen nicht nur Opfer

Wir legen Wert darauf, dass solche Anlaufstellen stets für alle offen sind. Schließlich können Menschen allen Geschlechts von unfairer Behandlung betroffen sein. Umgekehrt sind Frauen nicht automatisch Opfer – auch wenn Sexismus ein häufiger Typus von Diskriminierung ist. Es ist uns wichtig, dass wir als Frauen nicht prinzipiell aufgrund unseres Geschlechts als fragil betrachtet oder in eine Opferrolle gedrängt werden.

Wir Autorinnen erleben die Piratenpartei als allen Geschlechtern, sexuellen Orientierungen und Beziehungsformen gegenüber außergewöhnlich offen – und mit diesem Eindruck stehen wir nicht allein.

■ Lena Rohrbach ist Pressesprecherin der Piratenpartei Berlin, Manuela Schauerhammer stellvertretende Vorsitzende