General droht Prozess

Ein türkisches Gericht lässt Anklage gegen Heereschef zu. Dahinter könnte auch die AKP-Regierung stecken

ISTANBUL taz ■ Die Türkei steuert auf eine handfeste politische Krise zu. Ein Gericht in Van hat gestern überraschend eine Anklage zugelassen, in der dem Chef des Heeres, dem zweithöchsten Militär nach dem Generalstabschef, illegale Bandenbildung und Unterstützung illegaler Militäroperationen gegen Anhänger der kurdischen Arbeiterpartei PKK vorgeworfen wird. Obwohl der Generalstabschef Hilmi Özkök am Abend zuvor noch persönlich bei Ministerpräsident Tayyip Erdogan interveniert hatte, um die Ermittlungen gegen den Heereschef Yasar Büyükanit zu stoppen, ließ sich das Gericht nicht beeindrucken und akzeptierte die Anklage.

Hintergrund der Affäre ist ein Vorfall vom November 2005. In der Kleinstadt Semdinli, unweit der iranischen Grenze, wurde auf einen Buchladen, der einem ehemals bekannten PKK-Funktionär gehört, ein Bombenanschlag verübt, bei dem ein Mann getötet und sechs weitere verletzt wurden. Die Attentäter wurden von aufgebrachten Passanten festgehalten, als sie mit ihrem Auto flüchten wollten. Dabei stellte sich heraus, dass es sich um zwei Angehörige des militärischen Geheimdienstes und einen PKK-Überläufer handelte.

Bereits in der letzten Woche sickerte in der Öffentlichkeit durch, dass die Staatsanwaltschaft neben den drei direkt Tatverdächtigen auch gegen die örtlich zuständigen Militärkommandanten von Van und Hakkari und selbst gegen den Heereschef Büyükanit, der an der Spitze der Befehlskette steht, ermittelt. Der Chef des Heeres fiel bereits vor Wochen auf, als er öffentlich einen der mutmaßlichen Attentäter in Schutz nahm und ihn „einen guten Jungen“ nannte, „den ich seit langem kenne“.

Büyükanit soll turnusgemäß in diesem August auf den Posten des Generalstabschefs aufrücken. Er ist als strammer Kemalist bekannt, der sich immer wieder als Kämpfer gegen die so genannte „islamische Reaktion“ profiliert hat. Etliche Kommentatoren mutmaßen deshalb, dass die islamisch grundierte AKP-Regierung hinter den Kulissen die Anklage forciert hat, weil Ministerpräsident Erdogan so den Aufstieg Büyükanits zum Generalstabschef verhindern will.

In der türkischen Öffentlichkeit wartet man nun gespannt, wie das Militär auf die Anklageerhebung reagieren wird. Für die Türkei wäre es ein historisches Novum, wenn tatsächlich der zweithöchste aktive General vor Gericht gestellt wird. Als Erstes hat gestern die Börse reagiert: sie ist um fünf Prozent abgestürzt.

JÜRGEN GOTTSCHLICH