Die Hauptstadt der Plagiatoren

„Titel sind angesagt“, frohlockt Oleg, einer der emsigsten Doktormacher Moskaus. Doch der Job kostet Nerven

„Paraphrase kommt vor, ganze Kapitel übernehme ich aber nicht“

Oleg, Meisterfälscher

AUS MOSKAU KLAUS-HELGE DONATH

Oleg sitzt auf einer ausgezogenen Bettcouch in der Küche. Die Tür zu seiner Wohnung im achten Stock ist geschlossen, aber nicht verriegelt. Das ist ungewöhnlich in einem russischen Plattenbau, wo sich die Bewohner hinter dicken Stahltüren und Eisengittern verbarrikadieren. Die Wohnung liegt im Südwesten der Stadt, in einer Gegend, die im Moskauer Moloch zu einer der gediegeneren zählt. Mitarbeitern der Außenhandelsbank und verdienten Kadern der Akademie der Wissenschaften waren die Blocks in der Spätphase der Sowjetunion vor allem vorbehalten. Wer hier einzog, galt etwas. Viele der alten Bewohner leben hier noch immer. Die Fassaden sind verwittert, Kacheln fehlen in der Außenwand, und manche lustlos ausgeführte Reparatur hinterließ Narben. Dafür blendet der edle Fuhrpark vor der Haustür.

Ein Universalgelehrter

Jüngere Männer gehen bei Oleg ein und aus. Sie grüßen kurz und verschwinden im Seitenzimmer. Oleg eilt der Ruf voraus, eine Koryphäe auf seinem Gebiet zu sein – und sein Gebiet ist breit. Früher hätte man ihn einen Universalgelehrten genannt. Philosophie, Jurisprudenz, Geschichte und Ökonomie, Psychologie und Pädagogik sind seine Fächer, sogar in Sportdidaktik hat er promoviert. Äußerlich ist der Mittfünfziger eher unscheinbar. Klein, mit schütterem Haar und der durchsichtigen Haut eines Stubenhockers. So mancher Russe hat ihm viel zu verdanken. Dafür hat sich Oleg krumm gemacht.

„Ich kann nicht mehr, ich bin am Ende“, stöhnt er ohne aufzuschauen. „Ewig kreativ sein, nie zur Ruhe kommen, zwanzig Jahre geht das jetzt schon.“ Sobald er einen neuen Auftrag erhält, könne er nicht mehr schlafen.

Inzwischen raubt ihm aber nicht nur der Druck zur Kreativität den Schlaf. Es ist pure Angst, die Furcht vorm Auffliegen. Oleg ist einer der erfahrensten Doktormacher Russlands. Er hat Gouverneuren und Dumaabgeordneten, Bürgermeistern, Geschäftsleuten und ambitionierten Beamten zu akademischen Ehren, Karriere und Wohlstand verholfen. Doch Namen rückt Oleg nicht heraus. Das würde eine Lawine in der russischen Elite auslösen, murmelt er. Ein Albtraum. Vor lauter Arbeit hat er es bislang nicht geschafft, die eigene Dissertation abzuschließen.

Die Schlinge zieht sich unterdessen immer enger. Seit einem halben Jahr vergeht kaum ein Tag, an dem nicht neue Plagiate aufgedeckt würden. „Echte“ Akademiker machen Jagd auf die unechten. „Die einen spezialisieren sich auf Politiker, andere auf schwarze Schafe in der eigenen Branche“, erzählt Professor Andrej Rostowzew, der ein Programm entwickelt hat, um zumindest den dreistesten Schwindlern das Handwerk zu legen. Dieser „Dissertationshexler“ sei jedoch zu einfach und durchkämme die Skripte nur nach kürzeren Satzfragmenten. Um subtilere Schummeleien aufzudecken, wie sie in deutschen Dissertationen vorkämen, reiche das Instrumentarium noch nicht. Für Rostowzew, der auch in Deutschland tätig ist, war der Fall Annette Schavan der Anlass, auch daheim genauer hinzuschauen. Die Bundesbildungsministerin war nach Plagiatsvorwürfen Anfang Februar zurückgetreten.

Bereits im Februar wurden dann in Russland auf einen Schlag 24 von 25 Dissertationen nach eingehender Untersuchung als wissenschaftlicher Trash bewertet. Sie stammten allesamt von der Moskauer Hochschule für Pädagogik. Zu den überführten Moglern gehörte Andrej Andrijanow, Leiter der Kolmogorow-Schule für Mathematik und Physik an der Moskauer Staatlichen Lomonossow-Universität. Der Diplomchemiker mit einem Doktor in Geschichte war erst im vergangenem Herbst an die Spitze dieser Kaderschmiede befördert worden – gegen den Widerstand der Fachwelt. Präsident Putin ernannte Andrijanow dennoch zum Direktor. Als Dank für dessen politische Unterstützung, denn der falsche Doktor hatte die Studentenorganisation des Instituts in den neuen Wahlverein des Kremlchefs, die Volksfront, eingegliedert.

Auch Putin kupferte ab

Der Ertappte verließ den Posten daher auch nur unter Protest. Was hatte sich Adrijanow denn zuschulden kommen lassen? Sind Doktorarbeiten nicht nur schmückendes Accessoire, wie die Beine einer Vorzimmertrophäe, eine Villa an der Cote d’Azur oder ein ausgefallenes Chronometer? Und ist nicht auch der Kremlherr ein getürkter Doktor? 1997 promovierte Wladimir Putin am Petersburger Bergbau-Institut mit der Arbeit „Strategische Planung von regionalen Ressourcen bei der Formierung von Marktverhältnissen“. In der Erstfassung hieß die Arbeit noch „Strategic Planning and Policy“ und war von Professoren der Pittsburgh University als ein Textbuch für Management herausgegeben worden. Zugegeben, nur 16 Seiten waren abgekupfert und Tabellen ohne Quellenangabe übernommen worden.

„Titel sind angesagt, eine Mode, der sich keiner entziehen kann. Schon im Kommunismus waren sie begehrt“, sagt Oleg. Von den 450 Deputierten der Duma sind 143 Doktoren und 71 dürfen sich sogar Professor nennen. Nach Abschlüssen ist das Unterhaus ein sehr gelehrtes Parlament. Im Vergleich zum Bundestag allemal, wo nur 119 von 620 Abgeordneten über höhere akademische Weihen verfügen.

„Paraphrase kommt vor, ganze Kapitel übernehme ich aber nicht“, sagt Oleg. Das geht ihm gegen die akademische Ganovenehre und ist natürlich auch eine Frage der Tarife. Abgeordnete und Geschäftsleute, die zwischen 25.000 und 75.000 Dollar bezahlen, erwarten eine makellose Leistung. Allerdings kennen die Auftraggeber ihre Doktorväter nicht persönlich – aus Sicherheitsgründen. „Drei, manchmal vier Dissertationen schaffe ich in einem Jahr“, schätzt Oleg. Darunter seien dann aber auch Arbeiten für anspruchslosere Kunden, die schneller zu erledigen seien und schon ab 6.000 Dollar zu haben sind.

Oleg geht nur selten vor die Tür, meistens sitzt er in Turnhose und Unterhemd auf der Couch vor dem Küchentisch. Auf dem Hängeschrank läuft ein Fernseher. Das Mobiliar stammt aus sowjetischer Zeit. Auf dem Herd stapeln sich Teller mit Essensresten. Auf dem kleinen Tisch muss vieles Platz finden. Ein wackeliger Turm aus Manuskripten und Büchern, Aschenbecher, angebrochene Zigarettenschachteln, Orangensaft, Tee, Obstreste und ein Wodkaglas, das sich wie von allein füllt. Die Flasche steht unterm Tisch. Oleg trinkt nur eine Sorte, alle anderen würden ihm nicht bekommen, sagt er. Er ist Kettenraucher, der die halbgerauchten Stängel in einen wassergefüllten Aschenbecher fallen lässt. Er hält die Zigarette so, dass der Rauch die Finger zu schwarzen, perlmuttartigen Verhärtungen macht wie bei einem Schalentier.

Aus dem Seitenzimmer, der Schreibstube, in der mehrere Liegen zwischen meterhohen Bücherhaufen stehen, schaut Sergej heraus. Er will sich noch einen Tee holen. Sergej hat bis vor Kurzem in der Werkstatt des Meisters gearbeitet, zurzeit kopiert er nur Datensätze. Der Doktorand ist ausgestiegen, als im vergangenem Herbst Michail Baschartjan von der Moskauer Lomonossow-Universität enttarnt wurde.

Der „Dispatcher“ flog auf

Baschartjan fungierte an der philosophisch-philologischen Fakultät als „Dispatcher“. Er fädelte die Geschäfte ein, lenkte und kontrollierte den Informationsfluss. Er gab auch alle Wünsche des Klienten an den Lieferanten weiter. Dreißig Jahre hatte der Philologe diesen Job inne. „Mit 25 Jahren wird man nicht Dispatcher. Ohne akademischen Status, ohne Beziehungen und Zugriff auf die Verwaltungen läuft nichts“, erklärt der 35-jährige Sergej. Alle hätten gewusst, womit sich Baschartjan beschäftigt. Nicht nur mit der Vermittlung von Doktorarbeiten. Auch Eltern und Studenten standen vor seinem Büro Schlange, elegant und teuer gekleidet, mit Kartons, Tüten und großen Taschen. Geringere akademische Verdienste waren ebenfalls im Angebot.

„15 Prozent der Studenten wollten in meinen Kursen von vornherein alles kaufen“, erinnert sich Sergej an seine Studienzeit. Plötzlich müsse jemand daran Anstoß genommen haben. „Neid war der Grund, bestimmt nicht Moral.“ Das enge Netz von illegalen Dienstleistungen muss nun neu geknüpft werden. Denn zur Promotion gehören die Gutachter, die eingeweiht und bedacht werden müssen. Der Promotionsausschuss will im Bilde sein. Und auch im Vorfeld müssen die Voraussetzungen für eine Doktorarbeit gegeben sein.

So verlangt die Promotionsordnung, dass der Kandidat bereits in wissenschaftlichen Zeitschriften publiziert haben muss. Doch der informelle Servicebetrieb der Universität deckt auch das ab. „Viele Zeitschriften, in denen die Aufsätze erscheinen, sind gar keine“, räumt Sergej ein. „Oder sie sind als Beilagen richtiger Zeitschriften getarnt, die nur den Zweck des Abdrucks erfüllen.“ Die niedrigen Gehälter der Professoren hielten das System am Laufen, glaubt Sergej. Mancher Professor verhilft bereits angehenden Studenten zum Abitur. Der Geschichtsprofessor etwa, der für den Enkel des Premierministers die Prüfung schrieb. Sergej saß neben ihm. „Aus Gier hat der Professor sicher nicht gehandelt.“

Jedes Jahr werden 25.000 Doktoren promoviert. Zu viele, um alle zu überprüfen, behauptet die Bürokratie. Plagiatsjäger Andrej Rostowzew hält das für vorgeschoben. Am System solle nicht gerüttelt werden, Plagiatoren und falsche Doktoren werden gedeckt. Wer nachforscht, macht sich verdächtig. Betrug wird nur geahndet, wenn ein Konkurrent stört. Was Oleg derzeit den Schlaf raubt, ist nur ein Sonderfall.

Eine wissenschaftliche Arbeit spiegele den Seelenzustand des Autors, glaubt Oleg. Und um den steht es derzeit nicht gut. Auch ein kriminelles Handwerk ist ein schwieriges Handwerk.