„Komm! Leg dich neben mich“

Immer noch ein Tabu: Über Liebe, Sex und Zärtlichkeit im Alter wird in deutschen Ehebetten schamhaft geschwiegen. Auch Wissenschaftler sprechen selten über ein Thema, das eigentlich jeden betrifft. Über interdisziplinäre Perspektiven

AUS MÜNSTERMAIK BIERWIRTH

Die eigenen Eltern stellen wir uns lieber als asexuelle Wesen vor. Und das Nachdenken über den Körper unseres Partners in 30 Jahren verschieben wir lieber auf später. Selbst in der Wissenschaft wurde das Beziehungsverhalten von Menschen über sechzig bislang vernachlässigt. Immerhin, einige Forscher aus Psychologie, Gerontologie, Medizin und Pflege suchen inzwischen den Austausch und lieferten auf einer interdisziplinären Tagung in Münster teils unerwartete Ergebnisse.

Die Veränderungen am eigenen Körper können Gefühle von Scham und Kränkung wecken, sogar zu Ekel oder Selbsthass führen, erklärt Psychoanalytiker Hartmut Radebold. Vor allem, weil der Blick der anderen oft unerbittlich scheint. Ein älterer Mann lässt seine Brille beim Optiker liegen, nachdem er seine Frau zum ersten Mal seit Jahren wieder scharf gesehen – über Loriots Beitrag zum Thema hat Radebold schon oft nachgedacht.

Das Altern weist zwangsläufig auf die Endlichkeit des Lebens hin. Und die Endlichkeit von Liebe und Beziehungen. „Verdrängte Traumata oder schlicht lebenslange Frustrationen können nach Jahrzehnten wieder durchbrechen und den respektvollen Umgang mit dem Ehepartner erschweren“, erklärt der Psychoanalytiker. Erst recht, wenn mit dem Renteneintritt eine Sinnstiftung wegfällt und stattdessen ständige, unausweichliche Nähe entsteht. Manche Ehefrau merkt erst mit Ende Sechzig, dass sie die gesamten Ehejahre von ihrem Partner dominiert wurde und versucht eine späte Emanzipation, die nicht selten mit der Scheidung endet. Oder in einer Paartherapie aufgefangen werden kann.

Der gemeinsamen Sexualität kommt zwar weniger Bedeutung für eine funktionierende Ehe zu als die freundschaftliche Übereinstimmung zwischen den Ehe-Partnern, zeigen die wenigen existierenden Studien mit älteren Paaren. Die körperlichen Bedürfnisse sind aber nach wie vor wichtig. Mehr als 60 Prozent der über 60-jährigen sind alles andere als sexuell gleichgültig, erläutert der Leipziger Sozialmediziner Elmar Brähler seine breit angelegte Umfrage zum Sexualverhalten in Deutschland. Zwei Drittel der Paare aus den Jahrgängen 1930-32 sprechen jedoch laut einer Langzeitstudie nicht über die gemeinsame Intimität. Dies kann verstärkt zu Unzufriedenheit führen. Erst mit über Siebzig nehmen gesundheitliche und physiologische Defizite so zu, dass Geschlechtsverkehr für viele unmöglich wird. Die Lust an Zärtlichkeit bleibt allerdings.

„Hugo komm! Leg Dich nahe neben mich“, sagte eine 98-jährige Demenzerkrankte zu Michael Ganß. Der Kunsttherapeut und Gerontologe beteiligt sich an einem Wohnprojekt in Meran in Südtirol. Dort leben er und seine Kollegen in einer WG mit pflegebedürftigen Menschen. Ganß erzählt, wie die Mitbewohnerin ihn in einer dementen Phase für ihren früheren Liebhaber hielt und versuchte, ihn zu verführen. Eine schwierige Situation, da seine vorsichtige Ablehnung in ihrer Lebenswelt unverständlich und kränkend erscheinen muss.

Die Pflege muss oftmals Moralvorstellungen verletzen, kulturelle Tabus berühren: Unter Umständen muss beim sozialen Dienst in Körperöffnungen eingedrungen werden. Die Betroffenen müssen ihre Nacktheit gegenüber einem Fremden akzeptieren. Manche Heimbewohnerinnen lehnen männliche Pfleger aus Scham ab. Andere genießen die Aufmerksamkeit und Zuwendung. Eine Paarbeziehung kann in manchem Alters- oder Pflegeheim nicht würdevoll ausgelebt werden, da sowohl das Personal als auch die Bewohner nicht angemessen damit umgehen, wenn zwei ältere Menschen sich verlieben.

Bei mehr als einem Viertel der Pflegebedürftigen ist der Partner zugleich Pfleger. Diese doppelte Rolle ist ebenfalls problematisch, da sie die Beziehung maßgeblich verändert und nie ganz zwischen beiden Ebenen getrennt werden kann. Spätestens wenn das eigene Kind die Pflege übernimmt, muss das verbreitete „kognitive Inzest-Tabu“ zwischen den Generationen überwunden werden. Der Körper des Elternteils muss als solcher wahrgenommen werden.

Laut dem amerikanischen Eheforscher John Gottman benötigt eine gesunde Beziehung fünf positive gemeinsame Erlebnisse, um ein negatives aufzufangen. Die Siegener Psychologin Insa Fooken überträgt diese Formel auf Paare jenseits der Silberhochzeit: Eine Kritik am Partner muss durch fünf Komplimente ausgeglichen werden. Die Psychologin kommentiert ihre These mit einer ambivalent-ironischen Karikatur von Marie Marcks. Ein älterer Mann schenkt seiner Partnerin ein Blume und sagt charmant lächelnd: „Keine Frau welkt so schön wie du.“