Warten auf das Votum

Seit November lebt eine 12-Jährige in Unsicherheit: Viermal bereits wurde Cansu die Abschiebung angedroht – in ein Land, das sie nicht kennt

„Ich frage ständig, warum ich gehen muss, ich bin doch fast hier geboren“ „Wenn es klingelt, fürchte ich immer, dass Polizisten vor der Tür stehen“

von EVA WEIKERT

Die Angst ist eigentlich schon seit vier Jahren da. Die Angst, sie werde bestraft, obwohl sie gar nichts verbrochen hat. Vor vier Jahren starb Cansus Großvater bei einer Razzia in der Wohnung der Familie an einem Herzinfarkt. Die damals Achtjährige kam gerade aus der Schule nach Hause, Kranken- und Polizeiwagen blockierten den Hof vor dem Mietshaus in Bahrenfeld. Spricht man Cansu auf jenen Tag an, beginnt sie zu weinen.

Im vergangenen Spätherbst ist Cansus Angst dann groß und konkret geworden: Seit Anfang November hat die Hamburger Ausländerbehörde ihr unter Androhung der Abschiebung viermal eine Ausreisefrist gesetzt. Die Schülerin soll in die Türkei ausgeflogen werden – ein Land, das sie gar nicht kennt. Erster Termin war der 8. November, Cansus zwölfter Geburtstag.

Die aktuelle Gnadenfrist endet am 10. April. Dazwischen liegen mehrere Sitzungen des Eingabenausschusses der Hamburgischen Bürgerschaft, der ein erstes Gnadengesuch um ein Bleiberecht abgelehnt hat und jetzt über eine Folgeantrag entscheiden muss. „Ich frage meine Mutter ständig, warum ich gehen muss“, sagt Cansu, „ich bin doch fast hier geboren.“

Schmal und klein sitzt sie auf einem Sofa im Wohnzimmer der elterlichen Wohnung. Eng ist es hier, die Familie lebt zu sechst in drei Zimmern. Cansu teilt sich eines mit ihrer Großmutter. Hausaufgaben macht sie auf ihrem Bett oder am Esstisch in der Küche. Dort schläft auch ihre Mutter. Als es irgendwann an diesem Morgen an der Tür klingelt, sagt Cansu, sie möge das Läuten nicht: „Ich habe Angst, dass Polizisten vor der Tür stehen oder der Postbote wieder schlechte Nachrichten bringt.“

Seit ihrem vierten Lebensmonat lebt sie in der kleinen Wohnung nahe der Bahrenfelder Trabrennbahn. Cansu war ein Säugling, als sie aus der Türkei hierher kam. Deutschland hat sie seither nicht verlassen. Jetzt soll sie zusammen mit ihrer Mutter, Ayla Y., ausgewiesen werden, weil beide 1994 nur mit einem Besuchervisum einreisten, das zu einem dauerhaften Aufenthalt nicht berechtigt.

Dass Cansu von Vater, Bruder und Großmutter, die alle ein sicheres Aufenthaltsrecht in Deutschland genießen, getrennt würde, ist aus Sicht des Senats kein Hindernis. Auch nicht, dass Mutter Ayla für die Oma als Pflegerin eingesetzt ist.

Cansu spricht akzentfrei Deutsch und wenn sie „Hamburg“ sagt, dann endet es auf „urch“. In Bahrenfeld kenne sie „jede Ecke“. Weil die Familie, die von der Rente der Großmutter lebt, sich Urlaubsreisen nicht leisten kann, verbringt Cansu ihre Ferien meistens „mit Radfahren im Volkspark“. Oder im Schrebergarten der Eltern von Frederika, ihrer besten Freundin. Mit Frederika hat Cansu vor zwei Jahren auch eine Band gegründet: „Different Voices“. „Wir machen unsere eigenen Songs“, erzählt Cansu. Manchmal grübele sie, warum sie abgeschoben werden soll „und Frederika es besser hat“. Auch, dass ihr Bruder, der kurz vor dem Abitur steht, „für immer hier bleiben darf, vestehe ich nicht“, sagt sie und fügt hinzu: „Wenn ich gehe, kann ich ihn nicht mehr sehen.“

Türkisch kann Cansu weder lesen noch sprechen, nur ein bisschen verstehen. In der Türkei hat ihre Mutter eine einzige Adresse. In einem Dorf am Schwarzen Meer in der Nähe der Stadt Samsun leben die Eltern von Ayla Y. Eine weiterführende Schule gebe es im Dorf nicht, sagt sie. In Hamburg besucht Cansu die 6. Klasse der Geschwister-Scholl-Gesamtschule in Stellingen. Wie ihr Bruder will auch sie Abitur machen.

Beim Thema Schule entspannt sich Cansus Gesicht, in dem tiefe Schatten unter den Augen liegen, und sie lächelt beim Reden. Die Schule sei für sie wie „eine Familie“. Ihre Mitschüler hätten versprochen, sie dort zu verstecken, falls auch das zweite Gnadengesuch abgewiesen wird. Die erste Petition hatten Cansus Lehrer vor einem Jahr für sie eingebracht mit dem Argument, das Mädchen sei in Hamburg voll integriert und erbringe „hervorragende Schulleistungen“. Kurz nach dem „Schrecken im Herbst“, erzählt Cansu, nachdem die Ausländerbehörde sie erstmals zur Ausreise aufgefordert hatte, habe sie sich schlecht konzentrieren können und gleich eine Klassenarbeit verhauen.

Wenn Cansu älter ist, will sie an der Universität studieren und Rechtsanwältin oder Richterin werden. „Wenn ich das wäre“, sagt sie, „würden ich allen Kindern helfen, die in meiner Lage sind und für Gerechtigkeit sorgen.“