Ende und Neuanfang

In Bolivien wird ab Juli über eine neue Verfassung beraten, um den „kolonialen Staat“ zu beenden

PORTO ALEGRE taz ■ Der Weg zu einer verfassunggebenden Versammlung in Bolivien ist frei. Am Montagabend unterzeichnete Präsident Evo Morales in La Paz ein entsprechendes Gesetz, auf das sich der Kongress zuvor fast einstimmig geeinigt hatte. Danach werden am 2. Juli die 255 Mitglieder des Sonderparlaments gewählt. Am selben Tag stimmen die BolivianerInnen über eine größere Autonomie der neun Provinzen ab, die zusammen mit der Verfassung in Kraft treten soll.

Eine verfassunggebende Versammlung war neben der Verstaatlichung der Rohstoffe die Hauptforderung der sozialen Bewegungen, die 2003 und 2005 die zwei Präsidenten Gonzalo Sánchez de Lozada und Carlos Mesa zum Rücktritt zwangen. Ab August 2006 wird sie mindestens ein Jahr lang in der Hauptstadt Sucre tagen und die Rahmenbedingungen für die „Nationalisierung der natürlichen Ressourcen“ festlegen, kündigte Morales an. „Wir schreiten voran, um einen kolonialen Staat, ein neoliberales Modell zu verändern“, sagte der Staatschef.

Die früheren Präsidenten Mesa und Jorge Quiroga unterstützten den Kompromiss, bei dem die Regierung die Autonomiebestrebungen der südöstlichen Provinzen berücksichtigt hatte. Noch 2005 hatten die separatistischen Tendenzen, die vor allem von der Oberschicht der wohlhabenden Provinz Santa Cruz geschürt wurden, Bolivien an den Rand eines Bürgerkriegs gebracht. Doch seit seinem rauschendem Wahlsieg im Dezember hat Morales es offenbar verstanden, die Befürchtungen des Bürgertums weitgehend zu zerstreuen: Nach jüngsten Umfragen ist er beliebter denn je.

Sein Vize Álvaro García Linera lobte die Verhandlungsbereitschaft der Opposition in höchsten Tönen. Statt eines drohenden Sturms habe „eine strahlende Sonne alle überflutet: Indígenas und Nichtindígenas, Arbeiter und Unternehmer“, sagte der moderate Linksintellektuelle.

Möglich wurde der Durchbruch auch, weil die Regierung zurücksteckte: Der Wahlmodus sichert den Rechtsparteien eine angemessene Präsenz in der Versammlung. Die von Morales beschworene „Neugründung des Landes“ dürfte nun hinter den Erwartungen der sozialen Bewegungen zurückbleiben.

García Linera sagte vorgestern, er rechne damit, dass „nur 10 bis 20 Prozent“ der derzeitigen Verfassung geändert würden. Seine Schlüsselrolle als Mittler zur Oligarchie und bei gelegentlichen Reibereien mit den USA wird immer deutlicher. Washington kündigte gerade die Zusammenarbeit mit einer Eliteeinheit des Heeres auf, was Morales als „Erpressung“ kritisierte. Die USA wollten so ihre Kandidaten in der bolivianischen Armee durchsetzen, vermutet der Präsident. GERHARD DILGER