Andere Werte

AUS BERLIN SABINE HERRE

Eigentlich sollte es im AudiMax der Berliner Humboldt-Uni gestern um Solidarität in Europa gehen. Stattdessen ging es um Ausgrenzung. „Warum“, so fragte ein junger Pole den polnischen Staatspräsidenten Lech Kaczyński, „warum haben Sie als Oberbürgermeister von Warschau eine Schwulenparade verboten und so den europäischen Wertekonsens gebrochen?“ Er habe, antwortete der seit zwei Monaten amtierende Präsident, „nur die polnischen Gesetze eingehalten“. Er sei nicht für die Verfolgung von Schwulen. „Aber wenn die homosexuelle Haltung Oberhand gewinnt, dann würde die Menschheit aussterben.“ Eine Antwort, die ein nicht geringer Teil des voll besetzten AudiMax mit Beifall quittierte.

Denn auch unter den rund 600 Zuhörern, die gekommen waren, um eine Rede Kaczyńskis über das „solidarische Europa“ zu hören, gab es durchaus unterschiedliche Vorstellungen über die europäischen Werte. Als kurz nach Beginn der Veranstaltung rund dreißig Anti-Kaczyński-Demonstranten in den Saal vorzudringen versuchten, forderte Ingolf Pernice, Organisator der Humboldt-Reden zu Europa, diese auf, ans Mikrofon zu kommen. Was einige polnische Zuhörer überhaupt nicht verstehen konnten. Schließlich habe man Polens Staatspräsidenten eingeladen und nicht seine Gegner.

Reden durften sie dennoch. Doch auch ein Redakteur des Berliner Schwulenmagazins Siegessäule, der schließlich aufs Podium kam, hielt von der von Pernice geforderten Redefreiheit nicht allzu viel: Er bezeichnete Kaczyński als „Antidemokraten“, der die Polen verhetze, und forderte: „Dieser Mann darf hier nicht reden.“

Kaczyński redete natürlich dennoch – und das war auch gut so. Denn auf diese Weise wurde deutlich, dass der Präsident im Unterschied zu seiner klaren Haltung zu Schwulen beim Thema Europa nicht so genau weiß, was er will. Seine antieuropäische Rhetorik hatte er zumindest zu Hause gelassen.

Natürlich betonte der 56-Jährige, dessen zweitägiger Staatsbesuch in Deutschland zugleich sein erster Aufenthalt überhaupt hier war, einmal mehr die Bedeutung des Nationalstaates. Und natürlich sagte er, dass die Zeit für einen föderalen europäischen Staat noch nicht reif sei. Zugleich jedoch lehnte er die EU-Verfassung nicht in Bausch und Bogen ab, schließlich brauche eine Union mit bald 27 Staaten ein funktionierendes Regelwerk. Und während Kaczyński sich noch im Wahlkampf dafür stark gemacht hatte, Brüssel Entscheidungsbefugnisse wegzunehmen, sagte er jetzt, dass der Prozess der europäischen Integration weitergehen werde. Als Beispiel nannte er die Einrichtung einer EU-Eingreiftruppe und den Schutz der Grenzen. Bisher hatte er dagegen in Zweifel gezogen, dass eine EU-Außenpolitik überhaupt möglich sein könnte.

Das Thema Solidarität kam in Kaczyńskis Rede im Übrigen nur einmal vor: Wenn die EU die Ukraine aufnehmen werde, sei Polen bereit, zugunsten dieses ärmeren Landes auf Brüsseler Subventionen zu verzichten.

Was Ingolf Pernice von diesem Beitrag in seinem Veranstaltungszyklus hielt, machte er zum Abschluss deutlich. Eine große Reihe von Verfassungsjuristen, so auch er, wollten die EU gar nicht zu einem föderalen Staat machen. Schließlich habe man erkannt, dass der Staat nicht in der Lage gewesen sei, Kriege in Europa zu verhindern. In Europa müsse man ein völlig „neues Modell“ der Kooperation entwickeln.