Fußball, ein Hörgenuss

Vereinsmanager können sich oft nicht vorstellen, dass ihre Fußballclubs auch blinde Fans haben. Und die wollen die Spiele live im Stadion miterleben. Wie das geht, zeigen die „Sehhunde“

von JUTTA HEESS

Die Türen des ICE aus Hamburg öffnen sich. Aus Waggon 32 steigen zwei junge Frauen. Mit ihren weißen Stöcken tasten sie sich vorsichtig auf den Bahnsteig. „Hallo, ihr beiden!“ Ein großer bärtiger Mann kommt in schnellen Schritten auf Regina Hillmann und Nina Schweppe zu. Sie begrüßen ihn freudig und haken sich bei ihm ein. Der Mann lotst sie durch den Bahnhof. Ohne seine Führung wären die beiden 35-Jährigen orientierungslos, sie sind von Geburt an blind. Gerd Kiesrau, 59, begleitet sie in den nächsten Stunden zu einem Bundesligaspiel ins Stadion. Die Hamburgerinnen sind nämlich große Fußballfans. Und sie setzen sich schon seit Jahren dafür ein, dass auch Blinde und Sehbehinderte Spaß am Stadionbesuch haben. Doch bevor es zum Spiel von Hannover 96 gegen den 1. FC Nürnberg geht, machen die drei noch eine Pause in einem Café.

Bei Kaffee und Kuchen erzählen Regina Hillmann und Nina Schweppe von ihrer Liebe zum Fußball. Regina Hillmann hat lange braune Haare und braune Augen; man sieht ihr nicht an, dass sie nichts sieht. Die etwas kleinere Nina Schweppe versteckt sich hinter einer getönten Brille. Beide kommen aus fußballverrückten Familien, beide waren schon als Kinder im Stadion. „Früher haben uns unsere Väter oder Freunde das Geschehen auf dem Platz geschildert“, erklärt Regina Hillmann. 1991 gründeten sie den Fanclub „Sehhunde“, mit dem sie Blinden und Sehbehinderten Informationen rund ums Thema Fußball zugänglich machen. Seit 1999 kümmern sie sich zudem darum, Fußballstadien in Deutschland auch für Menschen, die nichts sehen können, attraktiver zu machen.

An speziellen Sitzplätzen erhalten Blinde und Sehbehinderte einen Kopfhörer, über den sie einen Live-Kommentar des Fußballspiels anhören können“, erklärt Regina Hillmann. „Der Kommentator sitzt meist in der Nähe der Nutzer und redet neunzig Minuten lang, ähnlich wie ein Rundfunkkommentator, nur wesentlich näher am Spielgeschehen, näher am Ball orientiert.“ Die Idee stamme aus England, ergänzt Nina Schweppe, erstmals wurde der Service bei Manchester United angeboten. Kurt Vossen, ehemaliger Fußball-Abteilungsleiter von Bayer Leverkusen, hat 1999 diesen Service gemeinsam mit den „Sehhunden“ nach Deutschland importiert. „So kann man mit Bekannten ganz entspannt ins Stadion gehen und sich über das Spiel unterhalten“, sagt Nina Schweppe. „Man verfolgt das Spiel über den Kopfhörer, man spürt die Stadion-Atmosphäre und kann sich gleichzeitig mit seinen Begleitern austauschen. Das ist eine wichtige Qualität.“

Zurzeit bieten dreizehn der achtzehn Bundesligastadien diesen Service an. Regina Hillmann und Nina Schweppe haben – gerade im Hinblick auf die bevorstehende Weltmeisterschaft in Deutschland – in den vergangenen Monaten viel dafür getan, dass die Vereine blinden Menschen entgegenkommen. Das war nicht immer einfach. „Viele meinen, Blinde gehen nicht ins Stadion“, erklärt Regina Hillmann. „Die denken: Was sollen Blinde beim Fußball? Aber jeder Verein hat Blinde im Stadion – nur weiß er es oft nicht, da die Leute nicht auffallen.“ Es sei den Verantwortlichen manchmal sehr schwer klar zu machen, dass es nicht nur spezielle Plätze für Rollstuhlfahrer und Behinderte geben müsse, sondern eben auch für Blinde. Inzwischen steht fest, dass es für alle WM-Spiele je zehn Nutzerkarten für Blinde und Sehbehinderte sowie zehn Begleiterkarten geben wird. Ein Erfolg für die „Sehhunde“.

Gerd Kiesrau mahnt freundlich zum Aufbruch, die beiden Frauen wollen schließlich noch zum Spiel. Während er Regina Hillmann und Nina Schweppe in die Jacken hilft, erklärt er seine Rolle am heutigen Tag. „Ich muss die beiden führen, damit sie unfallfrei vom Bahnhof zum Stadion und wieder zurück kommen. Und natürlich geleite ich sie gegebenenfalls zur Toilette oder zum Getränkestand.“ Gerd Kiesrau führt die beiden Frauen zur vollbesetzten U-Bahn. Auf dem Weg ins Stadion werden Regina Hillmann und Nina Schweppe von anderen Fans schon mal leicht angerempelt; Gerd Kiesrau bringt sie aber sicher auf die vorgesehenen Plätze.

Die Reporter des heutigen Spiels bereiten gerade die Technik vor. Tobias Fricke und Benjamin Widmayer, Journalistikstudenten aus Magdeburg, beschreiben und kommentieren seit Beginn dieser Saison alle Heimspiele von Hannover 96 für blinde Stadionbesucher. Ehrenamtlich. Nur die Reisekosten bekommen die jungen Männer von der Hochschule erstattet. Neben Regina Hillmann und Nina Schweppe sind noch zwei weitere sehbehinderte Frauen mit ihren Begleitpersonen gekommen. Rita Bendix, 78, hat erst im Alter ihr Augenlicht verloren; seit sie vom Stadion-Service für Blinde hörte, geht sie wieder regelmäßig zu den Spielen von Hannover 96. „So weiß ich wieder, was auf dem Platz passiert“, sagt sie.

Tobias Fricke verteilt Kopfhörer und Funkgeräte, Benjamin Widmayer nimmt das Mikrofon, er kommentiert die erste Halbzeit. Unaufgeregt und präzise schildert er, was auf dem Spielfeld passiert. „Der Ball kommt hoch in den Strafraum, Kopfballduell, keiner kann sich durchsetzen, der Ball wird rausgeschlagen, Einwurf in der Mitte der Nürnberger Hälfte für Hannover, Ball kommt zu Brdaric, Brdaric wird gefoult, Freistoß Hannover.“

Regina Hillmann und Nina Schweppe lauschen den Beschreibungen und tauschen sich untereinander aus. „Ein furchtbares Spiel“, sagt Regina Hillmann, Nina Schweppe stimmt ihr zu. In der Pause wechseln die Reporter die Batterien in den Funkgeräten; die zweite Halbzweit kommentiert Tobias Fricke. Das Spiel auf dem Rasen wird etwas lebendiger, und Fricke bringt das auch deutlich zum Ausdruck. Er spricht etwas emotionaler als sein Vorgänger, sein Duktus ähnelt eher dem eines Radioreporters. Vor allem als ein Tor für Hannover 96 fällt: „Tor, Tor, Tor!“

Nach dem Spiel geben Regina Hillmann und Nina Schweppe den beiden Kommentatoren einige Tipps. Sie wünschen sich künftig etwas mehr Begleitinformationen – etwa über die Tabellensituation, über neu eingekaufte Spieler, über Auswechselspieler, die sich warm laufen. „Wenn der Ball ruht oder bei Spielunterbrechungen könntet ihr uns noch ein bisschen mit Zusatzinfos versorgen“, rät Regina Hillmann, die aber grundsätzlich sehr zufrieden ist mit der Leistung der beiden Studenten. „Man muss lernen, alles viel genauer darzustellen“, erläutert Benjamin Widmayer. „Man muss sagen, an welchem Punkt sich der Ball befindet, wie viele Meter die Entfernung zum Tor beträgt, alles muss bildlicher werden als im Radio, damit sich die Blinden und Sehbehinderten das Geschehen auf dem Platz gut vorstellen können.“ Aber neben der akkuraten Beschreibung dürfen auch Emotionen nicht fehlen. „Klar, wir können auch Gefühle mit reinbringen“, sagt Widmayer. Und Fricke ergänzt: „Hierher kommen ja vor allem Hannover-Fans, da dürfen wir schon ein bisschen parteiisch sein.“

Nach dem Spiel geleitet Gerd Kiesrau Regina Hillmann und Nina Schweppe wieder zum Bahnhof. Bis zur WM werden die beiden noch oft in Sachen Qualitätskontrolle in den Stadien unterwegs sein, besonders dort, wo der Service für blinde und sehbehinderte Fußballfans erst seit kurzer Zeit angeboten wird. Sie wollen den Reportern sagen, worauf sie achten müssen, die Technik überprüfen, Erreichbarkeit und Zugänglichkeit der Plätze für Nichtsehende checken. Sie wollen schließlich, dass die Weltmeisterschaft auch für jene Fußballfans zum Erlebnis wird, die Dribblings, Doppelpässe und Tore nur über die Ohren wahrnehmen können.

JUTTA HEESS, 34, ist freie Autorin in Berlin