Tödliche Schönheiten aus Gold

Es war einmal „Das Fräulein von Scuderi“, die Erzählung von E.T.A. Hoffmann. Klaus Weise inszeniert Paul Hindemiths Opern-Version „Cardillac“ über das Doppelleben des Goldschmieds mit einem wuchtigen Chor und bleichen Volksgesichtern

VON FRIEDER REININGHAUS

Dass Verbrechen die Öffentlichkeit aufwühlen, ist eine alte Geschichte – und doch ist sie fast täglich neu. Die Irritationen der Bürger sind um so heftiger, je länger eine Mordserie nicht aufgeklärt wird. Im Berlin der 1920er Jahre, in denen nicht nur politische Tötungsdelikte zur Destabilisierung der Weimarer Republik beitrugen, sondern auch „Hamann mit dem Hackebeilchen“ Schabefleisch aus seinen Opfern machte, bediente sich der hintergründig auf „Neues vom Tage“ zielende Paul Hindemith eines älteren Plots: Ferdinand Lion verknappte für ihn E.T.A. Hoffmanns Erzählung „Das Fräulein von Scuderi“, in der die Erregung der Pariser Bevölkerung über einen Serientäter ergründet wird, der im Zeitalter Ludwigs XIV. seine Taten lange verborgen halten konnte.

Die Oper „Cardillac“ stammt aus der zweiten Lebensphase des Bratschers, Dirigenten und Komponisten Hindemith (1895-1963), in der sich dieser von seinem jugendlichen Radikalismus verabschiedete. Er schwenkte auf einen Kurs der gediegenen Polyphonie ein, begann pädagogische Verantwortung an der Berliner Musikhochschule und in der Musikalischen Jugendbewegung zu übernehmen. Die neokontrapunktische Schreibweise, mit der das Bonner Beethoven-Orchester unter der Leitung von Erich Wächter nicht nur zu Beginn der Premiere ein wenig Mühe hatte, spiegelt auch etwas vom Geist der Zeit des „Sonnenkönigs“ wieder. Sie erscheint gerade als satztechnisches Gerüst für die Nachtseiten jener Ära der wachsenden „Aufklärung“ auch musikdramatisch motiviert. Doch das musikalische Kolorit wirkt keineswegs nur historistisch, was der starke Einsatz des Saxophons ebenso unterstreicht wie die Harmonik, die aus den Bahnen der „Spätromantik“ ausgebrochen ist.

Gold ist ein besond‘rer Stoff: Er macht Männer zu Hyänen und womöglich selbst eine kühle Frau leidenschaftlich – zumal, wenn der kostbare Rohstoff unter den kunstfertigen Händen eines Metallverarbeitungsvirtuosen wie Cardillac schmeichlerisch vollendete Formen annimmt. Die Selbstverliebtheit, das Obsessive seines Schaffens setzt Andreas Scheibner so virtuos in Szene wie die kriminelle Energie, mit der dieser Ziselierkünstler, der sich ganz und gar in seinen Werken verwirklicht und ohne sie nicht glaubt leben zu können, sich die verkauften Stücke auf möglichst raschem Wege zurückbesorgt. Eigentlich hätte auffallen müssen, dass die Mordopfer allemal kurz vor ihrem Erbleichen bei ihm eingekauft haben – der Metallhändler ist der erste, der Verdacht gegen den Urheber der faszinierenden Schönheiten entwickelt, diesem auch auf leisen Sohlen nachgeht. Cardillacs Doppelexistenz wird vom Regisseur Klaus Weise in gespenstisches Unterlicht gesetzt, überhaupt sehr genau ausgeleuchtet gestaltete Scheibner die Titelpartie mit Verve, baritonalen Zärtlichkeiten und Energieentladungen. Die körperliche Seite von Cardillacs Kraft (und den Dolch im Genick) bekommt der Kavalier zu spüren, der eine Dame der Gesellschaft mit einem Cardillac-Geschmeide zum Schäferstündchen animiert; die kühle Brünette in Schwarz trägt eine großflächige Andeutung ihrer Sexualfunktionen auf der Bluse und dem Hosenrock. In einer der Funktionalität weitgehend enthobenen, steil aufragenden Treppenlandschaft, will Cardillac den Schwiegersohn in spe vom Erwerb eines seiner Prunkstücke abhalten, um ihm das zu erwartende rasche Ende zu ersparen. Aber der junge Offizier, stimmkräftig ausgestattet von Timothy Simpson, will die Kraftprobe: in einer von Klaus Weise sehr genau choreographierten Szene entringt er dem Schöpfer und Vater seiner Braut die edelste Kette – und dem vom Goldhändler beobachteten nächtlichen Anschlag entgeht der jugendliche Liebhaber mit leichter Verletzung.

Der Chor, sehr gut instruiert von Sibylle Wagner, rahmt die Handlung mit Wucht. Jeder der Choristen, die in den Straßenanzügen und frisiert nach der Mode der Entstehungszeit der Musik auftreten, trägt sein vergrößertes rundes Konterfei mit sich herum, setzt es wie die mittelalterlichen Ritter vor Brust, Bauch oder Kopf wie ein Schild ein; auch fügen sich die vielen bleichen Gesichter hin und wieder zur beziehungsreichen Vollmondlandschaft: Die durch die individuellen Gesichtszüge in Subjekte differenzierte Volksmasse fördert ans Licht, was dem staatlichen Polizei- und Justizapparat verborgen bleibt. Vor 80 Jahren bestimmte den Komponisten Hindemith eine basisdemokratische Hoffnung, die dann allerdings vom Gang der Geschichte, der auch ihn heftig beutelte, weggefegt wurde.

20:00 Uhr, Oper BonnInfos: 0228-778008