Die Chance vertan

Mit Enttäuschung reagieren nun in Irland die Missbrauchsopfer auf den Hirtenbrief des Papstes

DUBLIN taz | Zur Sonntagsmesse wurde Papst Benedikts Brief in allen katholischen Kirchen Irlands verlesen. „Zwar begrüßen wir die Anweisung des Papstes, dass die Kirchenführung mit den Behörden zusammenarbeiten soll, aber der Brief konzentriert sich auf die irischen Pfarrer niederen Ranges und ignoriert die Verantwortung des Vatikans“, sagte Maeve Lewis, die Geschäftsführerin des Opferverbandes One in Four. Sie sei verblüfft über die Behauptung des Papstes, dass die Wurzeln des klerikalen Kindesmissbrauchs in der Säkularisierung lägen.

„Papst Benedikt hat die Gelegenheit verpasst, den Kernpunkt des klerikalen Missbrauchsskandals anzusprechen: die vorsätzliche Politik auf höchster Ebene in der katholischen Kirche, die Schuldigen zu schützen und dadurch weitere Kinder zu gefährden“, sagte Lewis.

Im Mai vergangenen Jahres hatte eine Kommission festgestellt, dass in katholischen Kinderheimen und Waisenhäusern in den Jahren 1914 bis 2000 35.000 Kinder von Priestern und Mönchen geschlagen, gequält und vergewaltigt wurden. Der Bericht einer zweiten Kommission unter Richterin Yvonne Murphy vom November kam zu dem Ergebnis, dass sowohl die katholische Hierarchie als auch die Polizei den Missbrauch vertuscht und die Täter geschützt haben. Der Vatikangesandte in Dublin hatte die Arbeit der Murphy-Kommission bis zum Schluss boykottiert.

Andrew Madden verlangte am Samstag den Rücktritt des Papstes und des Oberhaupts der irischen Kirche, Kardinal Seán Brady. Madden war der Erste, der den Missbrauch 1995 öffentlich gemacht und gegen die Kirche geklagt hatte.

Das Rape Crisis Centre und der Opferverband Irish Survivors of Child Abuse sagten hingegen, der Brief sei ein „eindeutiger Akt völliger Ehrlichkeit und Transparenz“. Benedikts Erklärung, dass der Missbrauch durch Priester eine kriminelle Handlung gewesen sei, sei ermutigend. Die Untersuchung der Murphy-Kommission ist aber noch nicht abgeschlossen, die Kirche muss sich auf weitere Enthüllungen gefasst machen. Erst vor Kurzem ist herausgekommen, dass Kardinal Brady 1975 als Priester zwei Missbrauchsopfern ein Schweigegelübde abgenommen hat. RALF SOTSCHECK