Der tödliche Pass

Wie ich einmal bei der Fußballweltmeisterschaft 2006 die deutsche Depression heilte

Ich hatte mich schon den ganzen Tag nicht so gut gefühlt, ehrlich gesagt. Das Wetter hatte mir stark zu schaffen gemacht. Aber ich wollte Klinsi nicht damit belasten. Irgendwie war ich ihm ja zu Dank verpflichtet. Immerhin hatte er mich gegen alle Widrigkeiten und Anfeindungen in die Mannschaft genommen. Ohne ihn wäre ich wohl kaum in die Lage gekommen, eine WM zu spielen. In meinem Alter und ohne jede Profi-Erfahrung. Klinsi war jedenfalls eisern: „So einen brauchen wir in der Mannschaft. Der tut der Stimmung gut.“ Weil ich gut Witze erzählen kann. Ich sollte im Prinzip nur im Dress auf der Bank sitzen und bei den Kameraden gute Stimmung machen. Wenn es mal nicht so lief. Echt Klinsi! Und – was soll ich sagen – das war mein Ding.

Vor dem Achtelfinale gegen die Engländer war dann allerdings die Stimmung am Boden. Es ging einfach um zu viel. Dagegen kamen die besten Kalauer nicht an. Bei einer Niederlage wäre das zarte Pflänzchen Aufschwung, das sich so gerade mickrig zu räkeln begann, umgehend verdorrt. Unter dem groben Stiefel des perfiden Albion! Dass wir die Vorrunde so gerade noch gepackt hatten, war schon starker Tobak für die Stimmung im Lande.

Und nun dieses Achtelfinale. Gegen England. Ausgerechnet. Ich war heilfroh, dass ich mir alles von der Bank ansehen konnte. Ich nahm mir vor, den Kameraden den Untergang so erträglich wie möglich zu machen. Und er schien unvermeidlich, weil es nach nicht mal 20 Minuten schon Zweinull gegen uns stand. Schlenzer von Hargreaves und ein Hammerfreistoß von Becke. Alles gegessen, sollte man meinen. Zu allem Unglück knickte der Deisler auch noch ohne Fremdeinwirkung um und musste raus.

Mit Glück haben wir es irgendwie in die Halbzeit geschafft. Klinsi hat noch Asamoah eingewechselt, aber es ging nichts voran und bis die nächsten Tore fielen, schien nur eine Frage der Zeit zu sein. Die Englischmen waren uns turmhoch überlegen, und Klinsi ist in eine Art prämorbide Starre verfallen. Eine Viertelstunde vor Schluss waren einfach nur alle heilfroh, dass es so glimpflich abgegangen war. Abgehakt. Deutschland ist draußen, die Leute verließen das Stadion zu hunderten. Und dann … – startet der kleine Lahm dieses Solo auf der linken Seite, geht nach innen und haut einfach drauf, und das Ding ist drin.

Klinsi ist urplötzlich wieder zum Leben erwacht: „Aufgepasst, Menn’r. Etzt schtarten wir einen Kuuup!“ Genauso hat er es gesagt und hat so ein wahnsinniges Glitzern in den Augen gehabt. „Etzt müssen mir den Engländer total aus dem Konzäbbd bringään!“ Wir auf der Bank waren paralysiert und haben wie unter Drogen genickt. Ich auch. Bis Klinsi auf mich gedeutet hat: „Alb’rd, mach di warm!“ Ich hab mich umgesehen, wen er wohl meinen könnte, aber er hat mich gemeint. Ich sollte mich warmlaufen! Ich alter Sack mit keinerlei Profi-Erfahrung!

Ich hab zwei oder drei unbeholfene Kniebeugen gemacht, und dann bin ich raus auf den Platz. Und dann die Lautsprecheransage: „Für Schweinsteiger mit der Nummer 50: Dings … äh … Albert Hefele …“ 70.000, oder was von ihnen übrig war, waren auf einmal mucksmäuschenstill. Ich bin auf den Platz getorkelt und hab mich bemüht, mein Bäuchlein einzuziehen.

Ich bin dann ganz bescheiden an der Außenlinie geblieben, und nach meinem ersten zufälligen Ballkontakt war für die Tommys sofort klar: Der kann überhaupt nichts. Keine Gefahr. Klinsi hat nur verschwörerisch gegrinst: „Bewegen, bewegen. Nix anderes.“ Ich bin dann halt so hin und her gejoggt.

Das ging so bis kurz vor Schluss, und ich hatte schon angefangen, mich daran zu freuen, dass ich ohne Profi-Erfahrung an einem Achtelfinale der WM teilgenommen hatte, als auf einmal dieser Ball in meinen Joggingweg rollte. So ein Querschläger. Die richtigen Fußballspieler waren alle auf der anderen Seite des Platzes, und ich hatte unendlich viel Platz. Und, weil sich niemand so richtig um mich kümmern mochte, alle Zeit der Welt. Ballack rief noch: „Hau ihn raus!“

Da sah ich Gerry Asamoahs schweißglänzendes schwarzes Gesicht ungefähr 20 Meter vor dem Tor der Engländer. Er trabte schon resigniert Richtung Mittellinie und guckte nur mäßig interessiert zu mir. Rio Ferdinand, der auf ihn aufpassen sollte, schenkte mir gar keine Beachtung und unterhielt sich mit Hargreaves über irgendwas Lustiges. Sie wackelten grinsend mit den Köpfen in meine Richtung. Und das machte mich irgendwie wütend. Ein bisschen Respekt kann auch ein nicht mehr ganz junger Mann mit Bäuchlein erwarten. Und schließlich hatte ich in meinem Leben insgesamt wahrscheinlich nicht viel weniger Fußball gespielt als diese blasierten Schnösel. Zumindest hatte ich so viel gespielt, dass ich diesen blöden Ball ohne Probleme über die paar Meter einem Kollegen zuspielen konnte.

Ich säbelte also das Ding an Ferdinand und Hargreaves vorbei in den freien Raum vor dem englischen Sechzehner. Die beiden glotzten nicht schlecht, und Asamoah kapierte urplötzlich, dass er nicht im Abseits stand und der Weg zum Sechzehner frei war. Ein astreiner „tödlicher Pass“. Bis sich die beiden lustigen Verteidiger sortiert hatten, war Asamoah schon gestartet, ging durch wie eine Rakete, ließ den Keeper stehen und hämmerte das Leder mit ghanaisch-deutscher Urgewalt unter die Latte.

Für einen Moment war wieder Totenstille im Stadion. Schiri Ivanov wusste erst nicht so recht. Dann zuckte er mit den Schultern und deutete zur Mittellinie, und ein Jubel brach los wie Donnerhall, und die Engländer waren wie gelähmt. Und während sie sich noch gegenseitig die Schuld zuschoben, machte Thorsten Frings direkt nach dem Anpfiff in unwiderstehlicher Manier schon das Dreizwei. Zwei Minuten später war das Spiel aus, und ich fand mich plötzlich auf den Schultern der Kameraden wieder und wurde geherzt und schweißnass gedrückt und fast erdrückt.

Wie es weiterging, wissen wir ja alle. Das tolle Halbfinale gegen Brasilien und der Endspielsieg gegen die Elfenbeinküste. Und die fünf Minuten, die mich Klinsi im Finale unter dem tosenden Beifall des Publikums an der Linie auf und ab traben ließ. Zum Dank für meinen tödlichen Pass im Achtelfinale. ALBERT HEFELE