Henker und Held

aus Belgrad ANDREJ IVANJI

„Ermordet“, „Den Haag tötete Milošević“, „Tod vor dem Urteil“, konnte man am Sonntag auf Titelseiten serbischer Tageszeitungen lesen. Vor allem die Todesursache des ehemaligen Präsidenten Serbiens und Jugoslawiens löste wilde Spekulationen aus. Slobodan Milošević habe am Tag vor seinem Tod die Befürchtung geäußert, dass man ihn vergiften wollte, erklärte sein Rechtsvertreter, Zdenko Tomanović, und goß Öl ins Feuer der in Serbien so beliebten Verschwörungstheorien. Um den Verdacht eines gewaltsamen Todes aus der Welt zu schaffen, durften serbische und russische Pathologen der Obduktion von Milošević’ Leichnam beiwohnen.

„Der Präsident der Sozialistischen Partei Serbiens (SPS), Slobodan Milošević, wurde am Samstag in Den Haag ermordet“, erklärte feierlich auch Ivica Dačić, hoher Funktionär der SPS, die die serbische Minderheitsregierung unterstützt. Obwohl ein internationales Ärzteteam seinen Gesundheitszustand als lebensgefährlich bezeichnete, sei Milošević eine Behandlung in einem für Herzkrankheiten spezialisierten Krankenhaus in Moskau verweigert worden. Und zwar trotz der Garantien, die die russische Regierung offiziell abgegeben habe. Fernsehsender zeigten wiederholt, wie sich der sichtlich erschöpfte Milošević bei den Richtern vergebens über seinen Gesundheitszustand beschwerte.

Das ohnehin schlechte Image des UNO-Tribunals verwandelt sich in Serbien abrupt in offene Feindseligkeit. Selbst moderate Politiker, die sich entschieden für die Zusammenarbeit mit dem Tribunal einsetzen, kritisierten dessen „doppelte Standards“. Während zum Beispiel Vojislav Šešelj, Vorsitzender der in Serbien mit Abstand stärksten, ultranationalistischen Serbischen Radikalen Partei (SRS), seit drei Jahren in Untersuchungshaft auf seinen Prozess wartet, darf der ebenfalls vor dem Tribunal wegen Kriegsverbrechen angeklagte Expremier des Kosovo und ehemaliger Kommandant der albanischen Kosovo-Befreiungsarmee (UÇK), Ramush Haradinaj, nicht nur freien Fußes auf seinen Prozessbeginn warten, sondern sich auch politisch einsetzen, berichten serbische Medien.

Analytiker sind sich einig: Der „historische“ Prozess gegen Milošević hat in Serbien nicht den erhofften Prozess der Vergangenheitsbewältigung ausgelöst. Die Bewertungen Milošević’ klaffen auch nach seinem Tod unter den Serben weit auseinander. Für die einen ist er der „Henker und Totengräber Serbiens“, für die anderen ein Held. Ohne ein gefälltes Urteil, juristisch als ein unschuldiger Mensch gestorben, könnte Milošević als Märtyrer, der „für Volk und Vaterland“ sein Leben opferte, seinen Platz im serbischen Mythos finden. Er allein hätte das Tribunal besiegt, konnte man seine Parteigenossen mit entschlossener Miene reden hören.

Serbiens Premier, Vojislav Kostunica, bringt der Tod Milošević in eine gefährliche Lage. Wenn der wegen Kriegsverbrechen angeklagte bosnisch-serbische General, Ratko Mladić, nicht bis zum Monatsende dem Tribunal ausgeliefert wird, droht die EU die europäischen Integrationsprozesse Serbiens zu suspendieren. In der akuten xenophobischen, anti-haager Stimmung noch einen weiteren „serbischen Helden vor die Wölfe zu werfen“, wäre auf der anderen Seite für die brüchige Minderheitsregierung ein sehr riskantes Vorhaben.