Gas in einer Synagoge
: Kunst ist unbequem

Machwerk. Niedertracht. Missbrauch. Verfehlung. Schamlos. Geschmacklos. Nein, hier wird nicht die Politik im Allgemeinen beschrieben, sondern eine Kunstaktion. Santiago Sierra, einer der wenigen Enfants terribles, über die die internationale Kunstszene noch verfügt, leitet in der kleinen Kommune Pulheim Gas in eine Synagoge und erzeugt damit eine bundesweite Schockwelle unter den Biedermännern. Selbst der Kölner Autor Ralph Giordano, eigentlich ein unbestechlicher Verfechter der Wahrheit, vergreift sich im Ton, den der jüdische Zentralrat schon vorher reflexartig angeschlagen hatte. Gemeinsam fordert man nun die kommunalen Verantwortlichen auf „dem Spuk ein rasches Ende“ zu bereiten.

KOMMENTAR VONPETER ORTMANN

Dem Spuk? Die Kunstaktion ist demzufolge rational nicht zu erklären und deshalb unheimlich? Ganz im Gegenteil. Die 245 Kubikmeter lebensgefährliches Kohlenmonoxid sind für alle Altergruppen ein Juwel für eine gnadenlose Auseinandersetzung mit dem Grauen des Nationalsozialismus. Quasi ein unsichtbare Provokation zur persönlichen Stellungnahme. Keine noch so bewegende Rede, kein noch so aufwühlendes Musikstück kann derartige Assoziationen auslösen. Dieser Arbeit von Sierra die Kunst abzusprechen, ist ein Witz, über den niemand lachen sollte. Denn das Wesen der wahren künstlerischen Meisterschaft ist es, unbequem und verstörend zu sein, oder zumindest Reaktionen auszulösen. Und sie darf keinerlei Schranken kennen, in welche Richtung auch immer. Wer nur verlorene Stimmen hören will oder die Musik der Steine, verkennt die Funktion, die Kunst zu spielen hat. Die Stadt Pulheim und ihr Bürgermeister Karl August Morisse stehen dankenswerter weiterhin zu der Arbeit Sierras. An eine Schließung werde nicht gedacht, denn die Kulturverantwortlichen von Pulheim begreifen nicht, dass dies eine Beleidigung der Opfer sein solle. Ich auch nicht.