Die Frau, die vor nichts flüchtet

Seit 25 Jahren setzt sich Traudl Vorbrodt für Flüchtlinge ein – privat und in der Härtefallkommission. Kraft zieht die überzeugten Katholikin aus der Bibel. Ihr Lebensmotto lautet: „Nimm nichts einfach so hin“

Von SANDRA COURANT

Angefangen hat alles vor 25 Jahren. Mit ihrer tierischen Neugier, wie sie selbst sagt. Damals wohnt Traudl Vorbrodt in Spandau. Sie fragt sich, warum dort so viele dunkelhäutige Kinder wohnen. „Das waren Tamilen“, erinnert sich die heute 67-Jährige. „Ich wollte wissen, warum die hier sind.“ Sie besucht die Flüchtlinge in den Heimen – und ist beeindruckt und entsetzt zugleich. Sprache und Kultur der Fremden faszinieren sie, aber die Bedingungen, unter denen sie ihn ihren „Lagern“ leben, schockieren sie. Auf engstem Raum sind die Menschen dort zusammengepfercht, die Kinder haben nichts zum Spielen.

Spontan hilft Vorbrodt den Menschen. Sie sammelt Spielzeug, gibt den Frauen Deutschunterricht, macht Hausaufgaben mit den Kindern. Viele der Tamilen haben Tuberkulose. Die damals 43-Jährige besucht sie im Krankenhaus, unterhält sich mit Ärzten und Schwestern über die Situation der Flüchtlinge. Nach und nach werden viele von ihnen zu ihren Freunden.

Als Nächstes wendet sich Vorbrodt direkt an Abgeordnete. Sie will wissen, warum die Flüchtlinge so schlecht behandelt werden, wer dafür verantwortlich ist, auf welcher Gesetzesgrundlage das passiert. „Bis dahin bin ich mit Rudi Dutschke über den Ku’–damm geeilt und hab ‚Ho Chi Minh‘ gerufen.“ Die Friedensaktivistin lacht, wenn sie davon spricht. Und fügt umso ernster hinzu. „Doch dann hab ich gemerkt, dass es nicht reicht, gegen Kriege und Raketen zu sein, sondern dass Menschen Opfer dieser Kriege sind und dass man sich um sie kümmern muss.“

Das Bedürfnis, sich einzumischen, etwas zu verändern, lässt Traudl Vorbrodt seitdem nicht mehr los. Bis heute engagiert sie sich für die Rechte politischer Flüchtlinge. 1990 wird sie von der SPD als eines von sieben ehrenamtlichen Mitgliedern in die Berliner Härtefallkommission berufen. Alle zwei Wochen treffen sich die Vertreter von Senat, Kirche und Flüchtlingsgruppen in den Räumen des Innensenators und beraten dort über humanitäre Härtefälle, für die der Rechtsweg eigentlich erschöpft ist. „Die Atmosphäre zwischen uns ist gut und von gegenseitigem Respekt getragen“, erzählt Vorbrodt, „wenn auch nicht frei von Konflikten in der Sache.“

Das Grau ihrer Haare und Brauen verrät das Alter der 67-Jährigen. Aber ihr Blick über die Lesebrille hinweg ist hellwach. Ihre verrauchte Stimme wirkt anfangs Respekt einflößend. Mit ihrer schnodderigen Art geht Vorbrodt locker als Vorzeigeberlinerin durch. Dabei sind ihre Wurzeln bayerisch. Am 20. April 1938 wird sie in dem 300-Seelen-Dorf Pfändhausen bei Schweinfurt geboren und auf den Namen Gertrud Maria Anna Cäcilie Thekla Freiin von Münster getauft. Ihre Familie lebt auf einem Bauernhof. „Ich weiß genau, wie man Gänse rupft und wie man Schweineställe ausmistet.“ Ihre großen Hände scheinen noch heute Zeuge dieser „Erdverbundenheit“ zu sein.

Wenn Vorbrodt an ihre Kindheit denkt, fällt ihr vor allem ihre Großmutter ein. Von ihr lernt Traudl, wie wichtig es ist, sich einzumischen. Im Zweiten Weltkrieg organisierte sie eine Volksküche für Zwangsarbeiter und färbte jüdischen Kindern die Haare blond. Dann besorgte sie ihnen Papiere und half ihnen, nach England zu entkommen. „Meine Oma hat mir beigebracht, wie viel tolle und interessante Menschen es in andern Völkern gibt“, erzählt Vorbrodt. „Von ihr hab ich gelernt: Nimm nichts einfach so hin.“ Der Satz wird zu ihrem Lebensmotto.

1983, zwei Jahre nach ihr ersten Begegnung mit den Spandauer Tamilen, tritt die Katholikin in die unabhängige katholische Friedensorganisation Pax Christi ein. Ab 1989 berät sie Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung, begleitet sie bei ihren Verfahren, besucht sie, wenn es so weit kommen sollte, in der Abschiebehaft. Inzwischen macht sie die ehrenamtliche Einzelfallberatung nur noch einmal pro Woche – an ihrem freien Tag. Denn ihr Geld verdient die gelernte Kinderkrankenschwester mit einer Dreiviertelstelle in einer stationären Jugendhilfe für deutsche und ausländische Jugendliche. 1998 fing sie hier an, als sie mit 60 noch einmal den Job wechselte. Zuvor war sie Arzthelferin in der Praxis ihres Mannes.

Die beiden lernen sich 1964 in Berlin kennen und heiraten schon nach vier Monaten, weil Traudl Vorbrodt Tina adoptieren will – ein neu geborenes Mädchen, das sie bei ihrer Arbeit im Krankenhaus kennen lernt. „Wir mussten heiraten, sonst hätte ich Tina nicht nehmen können.“ Gemeinsam bekommt das Paar noch vier weitere Kinder. Inzwischen sind sechs Enkel dazugekommen.

Ihre Familie habe immer hinter ihr gestanden, erzählt Vorbrodt, auch wenn ihr der Einsatz für die Flüchtlinge manchmal zu weit ging. So habe ihre jüngste Tochter mit acht Jahren einmal ganz fürchterlich geweint und gesagt: „Ich würde auch gern ein Tamile sein, dann hättest du mehr Zeit für mich.“ Das ist für die Mutter ein Einschnitt. Sie weiß, jetzt muss sie etwas ändern und klare Grenzen ziehen. So lässt sie ab sofort keine Flüchtlinge mehr zu sich in die Wohnung. Außerdem macht sie sich einen Stundenplan, in dem sie Zeit für ihre Familie reserviert. „Von allein aber wär ich nie darauf gekommen“, gibt Vorbrodt zu, „ich hätte immer gesagt, meinen Kindern geht es gut.“

Inzwischen sind sie erwachsen und stehen ihr zu Seite, wenn sie selbst Zuspruch braucht. Etwa wenn ein Flüchtling, für den sich Vorbrodt eingesetzt hat, inhaftiert und abgeschoben wird. Das kommt nur zu häufig vor: So hatte die Härtefallkommission vergangenes Jahr in 287 Fällen ein Bleiberecht empfohlen. Davon lehnte Innensenator Ehrhart Körting (SPD), der letztlich entscheiden kann, aber 104 ab.

In Situationen wie diesen nagen Zweifel nagen an der sonst so selbstbewussten Frau, ob sie das Richtige getan, auch wirklich alles versucht hat. Trotz eigener Enttäuschung und Versagensgefühle lässt sie auch bei diesen letzten Schritten keinen im Stich. „Ich mache es wie Maria unter dem Kreuz. Mein Sohn stirbt, ich kann nichts daran ändern, aber ich bleibe, solange es geht, bei ihm.“

Nicht nur in Situationen der Trostlosigkeit lebt die Katholikin aus der Bibel. Das Buch der Bücher hat für sie „etwas hervorragend Befreiendes“. Der Kirche in Berlin wirft Vorbrodt vor, dass sie das Befreiende des christlichen Glaubens zu wenig zur Sprache bringe. Schon oft habe sie deswegen überlegt, aus der Kirche auszutreten, sich dann aber doch fürs Bleiben entschieden. Nur von innen könne man etwas verändern. „Ich höre die Sonntagspredigt darauf hin, was am Montag getan wird.“

Doch die kritische Katholikin will nicht nur entlarven, sondern auch Einfluss darauf nehmen, worüber man in der Kirche spricht. Dazu greift sie schon mal zu unkonventionellen Mitteln. 1985 etwa sammelte sie mit Jugendlichen aus ihrer Gemeinde in Kladow weggeschmissenes Brot aus Mülltonnen und stapelte es vor dem Kirchenaltar. „Ich wollte den Kontrast zwischen der weltweiten Armut und unserem Überfluss deutlich machen“, erklärt Vorbrodt die Aktion, die damals nicht bei vielen Gemeindemitgliedern Verständnis fand.

Vorbrodt spricht von sich selbst als Workoholic, als edle Kämpferin sieht sie sich aber nicht. „Ich kriege unheimlich viel zurück“, sagt sie. Von Anfang an hätten sie der direkte Kontakt mit den Menschen und die Freundschaften angerührt. „Ich habe Menschen und Ansichten kennen gelernt, die ich vorher nur aus Büchern kannte“, schwärmt Vorbrodt. Die interessanten Begegnungen und das Gefühl, etwas erreichen zu können, motivieren sie immer noch. „Ohne dass ich ein Risiko eingehe, kann ich als einzelne, alte, dicke, kleine Frau etwas ändern.“ Andere sind in ihrem Alter schon längst auf Rente, die 67-Jährige aber kann sich nicht vorstellen aufzuhören. Dreimal hat sie schon ihren offiziellen Abschied gegeben, und dann nach einigen Wochen umso intensiver weitergemacht. „Ich kann einfach nicht akzeptieren, dass andere es genauso gut können“, gibt Vorbrodt zu. „Das ist sicher eitel und überheblich, aber ich kann’s einfach nicht lassen.“