Lernen unterm Rad

AUS KÖLN GESA SCHÖLGENS

Mit der Zungenspitze zwischen den Lippen schraubt Dennis das Rad auf die Querstange. Die Stange ist an einem Schlitten festgemacht, der auf einem Tisch steht. Drumherum drängeln sich acht Roma-Kinder mit hellbrauner Haut und braunen Augen. Laut plappernd basteln sie an dem Gefährt herum. „Gib mir das“, schreit Gimi plötzlich, und reißt Denis eine Rolle Klebeband aus der Hand. Die Jungen zanken und schubsen sich. Bevor mehr passiert, greift Christoph Schulenkorf ein und ermahnt die beiden.

„Die Kinder haben spontan beschlossen, im Unterricht einen Roll-Schlitten zu basteln. Heute behandeln wir nämlich die Geschichte des Rades“, erklärt der Lehrer gutgelaunt. Das Rad sei das Symbol der Roma und ziere auch deren Flagge. „Es steht sowohl für die andauernde Vertreibung des Volkes, als auch für sein Nomadenleben.“

Hier, in der Roma-Schule des Kölner Projektes „Amaro Kher“ („Unser Haus“), werden derzeit 25 Flüchtlingskinder aus dem ehemaligen Jugoslawien im Alter von fünf bis 14 Jahren unterrichtet. Sie haben zuvor noch nie eine Schule oder einen Kindergarten besucht. Viele von ihnen wurden vernachlässigt, sind sozial auffällig und traumatisiert. Der Verein Rom e.V. hat das Konzept nach dem Vorbild des Frankfurter Projekts „Schaworalle“ entwickelt. Geplant wurde ein Kulturzentrum für die Roma-Gemeinschaft, mit einer Ganztagsschule als Zentrum. Seit anderthalb Jahren gibt es eine Grund- und Hauptschulklasse und eine Vorschule.

Das Gelände liegt direkt am Bahndamm. Auf dem Zaun prangt Stacheldraht. Bauschutt liegt überall auf dem matschigen Boden verstreut. Von außen sieht das Haus, eine aus dunklen Holzlatten zusammengezimmerte Baracke, aus, als würde es bald einstürzen. Nur die bunt geschmückten Fenster verraten, dass es eine Schule ist. Und die Kinder, die draußen spielen und einen Mix aus Romanes und Deutsch sprechen.

Das lange Springseil schwingt immer schneller. Aber Denis und Gimi sind noch nicht aus der Puste. Sie hüpfen gemeinsam, bis sich Gimi im Seil verheddert. „Ich muss zwischendurch immer mal mit ihnen rausgehen“, sagt Schulenkorf, das Seilende in der Hand. Der Bewegungsdrang der Jungen sei sehr groß. „Meine Rennschuhe sind gut für den Matsch“, sagt Denis und grinst breit. Der kleine 8-jährige mit den Lachfalten und den abstehenden Ohren mag besonders den Breakdance-Kurs. Den gibt es wie viele Angebote nachmittags, wenn der Unterricht vorbei ist.

Zuhause haben Denis und seine Kameraden keine Möglichkeit zum Toben. Denn sie leben mit ihren Familien in heruntergekommen Flüchtlings-Unterkünften, „manchmal mit acht Personen in einem Raum und in der ständigen Angst, abgeschoben zu werden“, erzählt Sabina Xhemajli, und ihre großen braunen Augen blicken ernst dabei.

Die Sozialpädagogin ist selbst eine Roma. Als Mediatorin begleitet sie den Unterricht und übersetzt, wo es nötig ist. Außerdem hält sie Kontakt zu den Eltern und kennt deren Probleme. Die Frauen könnten nicht einmal selbst kochen, das Essen werde geliefert. Dabei gehöre das gemeinsame Zubereiten von Mahlzeiten fest zu ihrer Kultur. Manche Kinder kämen nur unregelmäßig zur Schule. „Der Fernseher läuft zuhause oft die ganze Nacht, und die Kleinen kommen nicht zur Ruhe.“ Deswegen werden sie von Mitarbeitern zuhause abgeholt.

Die Pause ist vorbei. „Jetzt gehen wir wieder rein“, sagt Lehrer Schulenkorf. Die Jungs rennen in die Baracke. Durch den Flur, vorbei am kleinen Computerraum und einem schäbigen Bad. Die Wände der Klasse sind mit Basteleien geschmückt, darunter auch das Alphabet, auf Tonkarton geklebt. Tome hat Hunger – er holt sich schnell einen Apfelschnitz vom Tisch, bevor der Unterricht beginnt. Damit sie genug zu essen bekommen, frühstücken die Kinder morgens zusammen mit den Erziehern und essen auch gemeinsam zu Mittag.

Schulenkorf unterrichtet 13 Kinder zwischen acht und zehn Jahren. Deswegen muss er für jede Altersstufe Lernstoff vorbereiten. Der Wechsel in die Regelschule falle immer noch schwer, obgleich viele Kids es schaffen könnten, erzählt der Lehrer. Es fehle einfach der Rückhalt aus den Familien. „Einige Kinder sind heute krank“, seufzt er. „Kein Wunder, bei den beengten Verhältnissen, in denen sie leben.“ Ein pensionierter Kinderarzt komme zweimal die Woche zur Schule, untersuche oder impfe und mache auch Hausbesuche. Denn viele Familien gehen nicht zum Arzt. „Die Eltern meinen es aber nicht böse“, ergänzt Sabina Xhemajli. Durch Krieg, Vertreibung und Armut seien sie krank, depressiv, misstrauisch und entmutigt. Auch sind viele von ihnen Analphabeten mit großen Sprachproblemen.

Ein paar Schritte von der Baracke entfernt liegt das Hauptgebäude, angestrichen in einem verwaschenen Gelb. Hier werden die Fünf- bis Siebenjährigen beschäftigt. Bei Sozialpädagogin Beata Burakowska ist Malen angesagt. Die Kleinen sind eifrig dabei und kritzeln ihre Winnie-Puh-Bilder mit Buntstiften voll. Nur ein Mädchen ist nicht zufrieden: „Ich will ein anderes Bild anmalen“, mault sie in fast perfektem Deutsch. „Dass die Kinder so normal und ruhig am Tisch sitzen und arbeiten, ist keine Selbstverständlichkeit“, sagt Burakowska. Es koste viel Zeit und Kraft, sie daran zu gewöhnen.

Die zierliche Polin spricht Romanes mit den Kindern. Einmal die Woche kommt auch eine Sprachtherapeutin, um mit ihnen Deutsch zu üben. „Ich könnte noch viel mehr hier haben, aber es ist kein Platz da“, bedauert Burakowska. Die Kleinen seien hungrig nach Lernen und Spielen. „Aber viel mehr als eine Grundlage können wir ihnen nicht geben.“ Wenn sie abgeschoben würden, hätten sie wenigstens einige Kenntnisse in Lesen und Schreiben. „Die Eltern fragen sich natürlich auch: ‚Macht der Schulbesuch überhaupt einen Sinn, wenn wir bald wieder abgeschoben werden?‘“

Hinzu komme, dass das Schulsystem nicht zur Geschichte der Roma gehört. Mädchen gingen noch seltener zur Schule als Jungen. Sabina Xhemajli muss viel Überzeugungsarbeit in den Familien leisten. „Ich bin ein Vorbild für sie, ich habe einen Job“, sagt sie. Ihr Vater habe als Gastarbeiter in Deutschland seine Wurzeln lange verleugnet. „Er wollte damit den Vorurteilen entkommen.“ Noch immer glaubten viele Menschen, alle Roma seien kriminell und würden klauen.

Tatsächlich hat Amaro Kher auch den Auftrag, die so genannten „Klaukids“ von der Straße zu holen. Die Mehrzahl der Jugendlichen über 14 Jahre, die in der Schule einen Alphabetisierungskurs besuchten, sei bereits straffällig geworden, heißt es in einem Entwicklungsbericht des Rom e.V.. Einige suchten nach Alternativen. Allerdings fehle es bislang an Angeboten für die Älteren, sagt Mitarbeiterin Eva Werwach-Beyer. „Das würde unsere räumliche und personelle Versorgung sprengen.“

Noch ist der Unterricht für „geduldete“ Kinder nicht selbstverständlich. Erst seit August 2005 gilt für sie die Schulpflicht. Trotzdem gehen nicht alle Romakinder zur Schule. „Wir müssen kleine Schritte machen“, sagt Xhemajli zum Abschied. „Ich wünsche mir, dass mein wunderbares Volk endlich seine Opferrolle aufgeben kann.“ Wie es weiter geht, wenn das Projekt 2007 ausläuft, steht noch nicht fest. Bisher haben die Stadt, Land und Bund keine weitere Grundfinanzierung zugesagt. Zumindest das öffentliche Interesse an Amaro Kher ist groß. Vor kurzem war sogar der UN-Sonderbeauftragte Vernor Muñoz Villalobos zu Besuch, lobte das Projekt und sagte seine Unterstützung zu.

Über all diese Dinge machen sich Denis und Gimi keine Gedanken. Zusammen mit ihrem Lehrer probieren sie den selbstgebauten Roll-Schlitten auf der regennassen Straße aus. Er rollt fast wie geschmiert.