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Brasiliens Ruf in die Welt

Ein intensiver, weitreichender Moment in Kunst und Musik: Eine Schau in London zeigt, wie stark die brasilianische „Tropicália“-Bewegung die internationale Kulturproduktion bis heute beeinflusst

VON JULIA GROSSE

1969 stellte der damals noch eher unbekannte brasilianische Künstler Hélio Oiticica in der Londoner Whitechapel Art Gallery seine Installationen „Tropicália“ und „Eden“ aus: In weißem Sand standen seine penetrables aus Planen und Holzresten, die aussahen wie die Hütten in den Favelas von Rio. Überall standen Betten voller Stroh, Schaumstoff und Wasser, in das Kinder ihre Füße steckten, die Eltern saßen derweil gekrümmt in einem der Zelte und hörten Musik über die herumhängenden Kopfhörer. Favelas, das waren für den Londoner Besucher bedrohliche, ferne Orte, die Oiticica ihnen damals auf dem sicheren Terrain des Whitecube zusammenbaute.

Seitdem sind 35 Jahre vergangen, und nun sind Hélio Oiticicas Installationen wieder in London zu sehen, in der Barbican Art Gallery breiten sie sich aus, selbst echte Papageien stehen wieder deplatziert auf ihren Stangen und lassen sich von den fürsorglichen Museumswärtern füttern. Den ganzen Monat feiert das Barbican mit „Tropicália – A Revolution in Brazilian Culture“ das Land mit einem großen Programm aus Musik, Theater, Tanz und bildender Kunst, und es ist heute etwas anderes, wenn man in Socken durch Hélio Oiticicas sandiges Shantytown stapft. Denn die Hütten, symbolisch zusammengebrettert aus abgelegtem Wohlstandsmüll, hat der Westen längst als bedrohlich-coole Ghetto-Architektur entdeckt. Absurderweise gibt es unweit der Ausstellung, im kreativen Ausgehviertel Shoreditch, eine Bar, die genau jenen verklärten Trend zum Aushängeschild ihrer überteuerten Caipirinha-Bar macht und sich „Favela Chic“ nennt.

Damals ging mit Oiticicas Installation „Tropicália“ ein Ruck durch Brasiliens Kulturszene. „Tropicália“ wurde zum Symbol einer Bewegung, die in der bildenden Kunst, Musik, Literatur und Theater brasilianische Klischees ironisch zu zelebrieren begann und experimentierfreudig mit anderen Einflüssen verband. Tropicália war eine Neudefinition künstlerischer Identität wie auch eine politische Reaktion auf die Militärdiktatur der Zeit. Richtig populär wurde der Begriff dann allerdings 1968 mit der Produktion des Albums „Tropicália“ mit Gilberto Gil, Gal Costa und Caentano Veloso: Es wurde zum Stellvertreter für eine neue Musik, die sowohl internationale wie auch traditionelle Einflüsse heranzog. Brasilianische Volksmusik verschwamm mit psychedelischen Träumen, Hendrix und den Beatles zu einer einzigartigen Form, die den brasilianischen Pop und auch Musiker wie Beck oder David Bowie beeinflussen sollte. Darüber hinaus mutierte die Musik der Tropicálisten leider auch zum sehnsuchtsvollen Soundtrack für westliche Brasilienfans und Fußballspots.

In ihrem Ehrgeiz, alle Facetten dieses historischen Moments 1967–72 in einem einzigen lebendigen Spektakel zu vereinen, droht sich die von documenta-11-Kurator Carlos Basualdo konzipierte Schau in der Barbican Art Gallery allerdings zu verzetteln. Die Arbeiten, Installationen, Bilder, Filmposter hängen und liegen unübersichtlich beieinander, aus allen Boxen dröhnt die Musik, und man steht ratlos vor zu vielen Wandkärtchen und weiß nicht, was nun wo ist.

In Vitrinen liegen theatralisch poppige Plattencover von Gilberto Gil, in der Mitte des großen Raumes hängen Ernesto Netos gefüllte strumpfartige Netze wie überdimensionale Tropfen von der Decke, und alle paar Minuten bläht sich unter irrem Getöse Marcello Nitsches Maschine „Bolha 67“ auf wie eine riesige Ballonkonstruktion, ganz im Geiste Jean Tinguelys. Raymundo Colares dekomponiert selbstbewusst in seinen eigenwilligen, geometrischen Papierfaltungen Meister Mondrians Arbeiten. Nelson Leirners Hommage an Lucio Fontanas zerschnittene Leinwände schließlich wird zur ironischen Neuschreibung der Moderne: Leirners aufgeschlitzte Bilder haben Reißverschlüsse, wie eine Art ironisches Auffangnetz.

Die bildende Kunst Tropicálias war stark beeinflusst durch Referenzen zu vergangenem kulturellem Material. Man bezeichnete sich als Neo-Konkretisten und bediente sich dabei des Begriffs der Konkreten Kunst nach Theo van Doesburg, um ihn sogleich wieder respektlos zu widerlegen. Anstatt jegliche menschliche Spur aus der rein geometrischen Formensprache zu verbannen, wurde stattdessen mit der Beziehung zwischen den Werken und ihren Betrachtern experimentiert. Vor allem die Arbeiten der legendären Lygia Clark durfte, nein, musste der Besucher berühren, blasen, kneten und tasten, um das Erlebnis mit den gefüllten Objekten, gummiartigen Schläuchen, überhaupt empfinden zu können.

Die ersten Seiten des sehr umfangreichen Katalogs beginnen mit wundervollen Schwarzweißfotos, auf denen Hélio Oiticica mit anderen Mitgliedern der Mangueira Samba School in Rio vollkommen in seinen Tanz versunken ist, das Hemd in der engen Hose, den Körper unter disziplinierter Spannung. Für Karnevalsumzüge entwarf er aus Stoffstücken und Planen abstrakte Flaggen, Banners und gewandartige Umhänge, die die Tänzer einzigartig in ihren Tanz integrierten. In der Londoner Schau waren die Besucher aufgefordert, Oiticicas Kleider zu tragen, doch die Unikate blieben hängen. Die Zeiten haben sich eben geändert, wie auch manche Karrieren: 1968 führte die Regierung ein Gesetz ein, das jede Form kultureller Opposition verbot, kurz darauf wurde Gilberto Gil nach einem Konzert in Salvador festgenommen. Heute ist er Brasiliens Kulturminister.

Bis 21. Mai, Barbican Art Gallery, Katalog 40 €

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