: Radikale Nähe
DER GROSSE UNBEKANNTE Die Grazer Diagonale widmete dem österreichischen Filmemacher Peter Schreiner eine Werkschau. Er porträtiert mit Vorliebe Freunde und Bekannte
VON SVEN VON REDEN
„Wir haben zu viel Erfolg“, wirft Nikolaus Geyerhalter mit ernster Miene in die Runde. Der Dokumentarfilmer spricht bei einer Diskussionsveranstaltung der Diagonale, dem Festival des österreichischen Films. Die Erwartungen an einheimische Regisseure sei mittlerweile so hoch, erklärt Geyerhalter, dass eine Goldene Palme schon als selbstverständlich abgenickt würde. Die Aussage bezog sich natürlich auf Michael Hanekes Erfolg mit „Das weiße Band“ in Cannes und weit darüber hinaus. Auf dem Podium war man sich aber einig, dass auch der österreichische Dokumentarfilm seit zehn Jahren einen Boom erlebt.
Die Erfolge von Filmen wie „We Feed the World“ oder „Plastic Planet“ haben die Aufmerksamkeit allerdings verlagert, weg von einem dokumentarischen Kino, das einen klaren Autorenstandpunkt vertritt und sich mit der spezifischen Kino-Form auseinandersetzt – wofür Regisseure wie Geyerhalter, Ulrich Seidl und Michael Glawogger stehen. Stattdessen geht es zunehmend um die Themen der Filme. Der filmische Standpunkt verschwindet hinter der politischen Relevanz der verhandelten Topics.
Wie ein radikaler Gegenentwurf dazu aussehen kann, zeigte die schönste Entdeckung der diesjährigen Diagonale: Peter Schreiner, dem eine fünfteilige Retrospektive gewidmet war. Er ist so etwas wie der große Unbekannte des österreichischen Kinos, denn obwohl der 1957 geborene Filmemacher seit den frühen 80er-Jahren acht Langfilme gemacht hat, war nur sein vorletzter, „Bellavista“, regulär in Österreich in den Kinos zu sehen, in Deutschland fand bislang keiner seiner Filme einen Verleih.
Das liegt nicht zuletzt daran, dass Schreiner keine „Themen“-Filme macht. Bei den meisten seiner Werke lässt sich gar nicht so leicht sagen, worum es überhaupt geht. Wenn einzelne Menschen porträtiert werden, wie in seinen beiden letzten Werken „Bellavista“ und „Totó“, dann sind es keine Prominenten, sondern Bekannte des Filmemachers, deren Leben er interessant findet.
Die Umgebung filmen
In seinem Frühwerk tritt Schreiner noch selber in seinen Filmen auf. Er dreht seine direkte Umgebung, seine Freunde, private Reisen. Mit den Tagebuchfilmen eines Jonas Mekas, dessen „Paradise Not Yet Lost“ Schreiner besonders schätzt, haben sie aber formal nichts gemein. Meist bleibt seine 16-mm-Kamera unbewegt. Die Kompositionen seiner fast ausschließlich in Schwarz-Weiß gedrehten Bilder sind dabei bemerkenswert. Ein gutes Beispiel ist die erste Einstellung seines Filmdebüts „Grelles Licht“. Ungefähr drei Minuten dauert die stürmisch-zärtliche Abschiedsszene eines Paares in einer Küche. Während er am äußersten linken Bildrand genau im rechten Winkel zur Blickachse der Kamera sitzt, umspielt sie ihn, kehrt wieder und wieder zurück und verlängert den Abschied weiter.
Kann man hier überhaupt noch von Dokumentation sprechen? Die Szene wirkt eher wie eine Performance für die Kamera, die wie ein Theaterzuschauer auf eine Bühne blickt. Zwischen inszenierter Dokumentation und dokumentierter Inszenierung lässt sich schwer trennen in Schreiners Frühwerk. Schon hier zeigt sich ein Charakteristikum seines Gesamtwerks: Er schaut so lange und genau hin, bis die Personen oder Dinge zu reden beginnen – im wörtlichen oder übertragenen Sinne. Denn oftmals schweigen seine Protagonisten minutenlang die Kamera an. Man hört nur den Rhythmus ihres Atems. Oder sie sprechen in unvollständigen Sätzen, die bedeutungsschwer im Raum hängen. Ein Affront für alle Zuschauer, die vom Filmerlebnis eine Verdichtung von Zeit und Handlung erwarten. Bei einem Werkstattgespräch erzählte Schreiner eine schöne Anekdote. Bevor er als Filmemacher anfing, arbeitete er als Kameramann. Von einem TV-Sender bekam er den Auftrag, ein Formel-1-Rennen zu filmen. Doch es gelang ihm einfach nicht, die rasenden Autos einzufangen. Er konnte die Aufgabe nur mit Hilfe anderer meistern. Er sei einfach sehr langsam, erzählte er ohne Koketterie.
Das Statische seiner Kameraarbeit geht so weit, dass er seinen Protagonisten nicht folgt, wenn sie den Bildausschnitt verlassen. Was zunächst wie ein übertriebener Formalismus wirkt, der auf den Menschen keine Rücksicht mehr nimmt, entpuppt sich im Gegenteil als Ermächtigung der Personen vor der Kamera: Sie können selber wählen, ob, wie viel und was von ihnen zu sehen ist. Bei seinen beiden Porträtfilmen „Bellavista“ und „Totó“ rückt die Kamera so nah heran an die Gesichter, dass manchmal nur noch ein Auge zu sehen ist. Doch statt bloßzustellen, verbirgt diese radikale Nähe eher.
Man kann Schreiner vorwerfen, dass seine Filme manieriert verrätseln, statt aufzuklären, aber wenn man sich auf sie einlässt, schärfen sie auf fast magische Art die Sinne: Entlassen aus dem Kino hört man plötzlich den Rhythmus seines Atems und sieht Details an Menschen und Umgebung, die einem vorher nie aufgefallen wären. Das macht Schreiner zu einem der wichtigsten Filmemacher in einem an Talenten reichen österreichischen Kino.
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