Wer ist hier der Dumme?

ARBEITSWELT Die einen klagen über unfähige Jugendliche, die anderen über zu anspruchsvolle Arbeitgeber. Es gibt viele Thesen, woran Ausbildungen scheitern können – die meisten widersprechen sich

Es sei oft der familiäre Hintergrund, der darüber entscheide, wo ein Jugendlicher lande

TEXT SEBASTIAN PUSCHNER
UND ALKE WIERTH
ILLUSTRATION JULIANE PIEPER

Nadine Bader* ist 20 Jahre alt und hat keinen Ausbildungsplatz, aber zu ihrem Beratungsgespräch an diesem Montagmorgen ist sie nicht erschienen. „Der Klassiker, sie hat verschlafen“, sagt Ausbildungsvermittler Michel Holleitner und ist froh, dass die junge Frau wenigstens noch per Telefon abgesagt hat. Viele machten das nicht. Auf 40 Prozent schätzt Holleitner den Anteil der Termine, zu denen die Jugendlichen nicht kommen.

Praktika im Betrieb

Holleitner ist bei der Arbeitsagentur angestellt, doch sein Büro im Ludwig-Erhard-Haus in Charlottenburg teilt er sich mit Kollegen von der Industrie- und Handelskammer (IHK). Gemeinsam versuchen sie, Jugendliche ohne Lehrstelle an den Ausbildungsmarkt heranzuführen, über halb- oder einjährige Betriebspraktika mit Berufsschulunterricht, vom Staat bezuschusst, die im Idealfall in einen Ausbildungsvertrag münden.

Diese Praktika sind nur eine der zahlreichen Vorbereitungs-, Orientierungs- und Qualifizierungsmaßnahmen, die das Berliner Arbeitsmarktprogramm BerlinArbeit für Jugendliche auf der Suche nach einem Ausbildungsplatz auflistet. Sie heißen BVBO, BvB, BQL, EQ, EQplus, OBF oder IBA, dazu gibt es die abH, das BAPP, die BaE sowie VamB. Nicht zu vergessen die Motivationsprogramme mit klingenden Namen wie „Komm auf Tour“, „Ausbildung in Sicht“ oder gar „Berlin braucht Dich“. Ganze zwölf Seiten – ein Fünftel der Gesamtlänge – braucht BerlinArbeit allein für die Zusammenfassung all dieser Maßnahmen.

Sogar die Verfasser des Programms selbst kommen zu dem Schluss, die „vorhandene Vielfältigkeit der Angebote“ führe zu einem „nur schwer überschaubaren Gesamtsystem“. Eine einzige Anlaufstelle soll irgendwann Abhilfe schaffen – wann, steht aber nicht in dem Papier. Derzeit würden noch „offene Fragen“ besprochen, heißt es vage.

Ist die derzeitige Maßnahmenvielfalt sinnvoll? „Ja“, sagt Stefan Nowack, Leiter des Bildungsberatungsprojekts Kumulus. „Dann, wenn ein Jugendlicher weiß, warum er in einer bestimmten Maßnahme ist und was sie ihm bringt.“ Sinnlos sei es allerdings, Schulabgänger dort einfach zu „parken“, ohne mit ihnen ein Ziel abgesprochen zu haben. Voraussetzung sei deshalb sorgfältige Beratung von SchülerInnen zur Berufsorientierung: „Da werden bisher immer noch nicht alle ausreichend betreut“, sagt Nowack.

Nadine Bader hätte eine solche Beratung sicher gut gebrauchen können. Sie hat nur einen Hauptschulabschluss und den schon vor drei Jahren gemacht. Seitdem hat sie nur eine berufsvorbereitende Bildungsmaßnahme absolviert, den Weg von der Schule in den Arbeitsmarkt aber nicht geschafft. „Wahrscheinlich hat sie noch ein wenig gejobbt, aber das war’s“, sagt Holleitner von der Arbeitsagentur. Auf normalem Weg wird die junge Frau wohl keine Lehrstelle mehr bekommen. Holleitner hofft weiter, sie über eine Einstiegsqualifizierung zu vermitteln, und will einen neuen Termin mit ihr machen.

Bei dieser Qualifizierung können die Jugendlichen erst einmal ausprobieren, ob sie im gewählten Beruf zurechtkommen. Aber es geht auch darum, schlechte Noten im Bewerbungszeugnis wettzumachen, indem sie sich in der praktischen Arbeit bewähren. Und: Die Betriebe können sich den Kandidaten in der Praxis ansehen, bevor sie einen dreijährigen Ausbildungsvertrag schließen. „Das senkt für beide Seiten die Hemmschwelle“, sagt Holleitner.

Dennoch werden auch am diesjährigen 1. September wieder viele Jugendliche ohne Lehrstelle dastehen. 2012 drängten wegen des doppelten Abiturjahrgangs viele Bewerber mit Fachhochschulreife auf den Berliner Ausbildungsmarkt. Trotzdem waren am Ende des Jahres noch 222 Ausbildungsplätze unbesetzt und blieben 1.062 Jugendliche mit Ausbildungswunsch unversorgt. 2013 könnte es noch schlimmer kommen, deutete Dieter Wagons an. Der ist Chef der Regionaldirektion Berlin-Brandenburg der Bundesagentur für Arbeit und sagte vergangene Woche: „Da die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage dieses Jahr gravierend ist, werbe ich erneut darum, weitere Ausbildungsplätze gerade in zukunftsorientierten Branchen zur Verfügung zu stellen.“

Doch Ausbildungsbetriebe sind in Berlin Mangelware. Nur 51 Prozent der Unternehmen in der Stadt sind ausbildungsberechtigt, verfügen etwa über die nötigen Ausbilder und Räumlichkeiten. In Ostdeutschland sind das 53, in Westdeutschland 59 Prozent. Von den berechtigten Betrieben wiederum bilden in Berlin gerade einmal 42 Prozent aus, durchschnittlich liegt diese Quote in Deutschland bei 51 Prozent. Und das, obwohl ständig Warnrufe wie der von Arbeitssenatorin Dilek Kolat (SPD) anlässlich der Veröffentlichung der Arbeitsmarktzahlen Ende Juli ertönen: „Wer heute nicht ausbildet, hat morgen keine Fachkräfte.“

Bei der Industrie- und Handelskammer Berlin ist Thilo Pahl als Geschäftsführer für den Bereich Ausbildung zuständig. Zur niedrigen Ausbildungsbeteiligung der Betriebe sagt er: „Wir haben in Berlin eine sehr kleinteilige Wirtschaftsstruktur mit vielen Betrieben, die weniger als zehn Mitarbeiter haben.“ Ohne professionelle Personalabteilung sei es für sie viel schwieriger, Ausbildung zu organisieren. Außerdem sei ein duales Studium für viele große Unternehmen in der Stadt attraktiver: Nirgendwo sonst gehören mehr Akademiker zum Personal der Unternehmen – 15 Prozent sind es in Berlin, im Bundesschnitt 7 Prozent.

Gleichzeitig lag die Zahl der Schulabgänger ohne Abschluss in Berlin im vergangenen Schuljahr bei 2.339, das sind 7,6 Prozent des Jahrgangs. Auch deshalb hätten „viele Unternehmen Schwierigkeiten, geeignete Bewerber für ihre Ausbildungsplätze zu finden“, sagt Pahl. „Das macht es wiederum schwierig, andere Unternehmen davon zu überzeugen, überhaupt Plätze anzubieten.“

355 Berliner Unternehmen hat die IHK in diesem Jahr zum Thema Ausbildung befragt. Mit weitem Vorsprung führen zwei Punkte die Liste der Ausbildungshemmnisse an: Fast 75 Prozent der Firmen nannten die mangelnde Ausbildungsreife von Schulabgängern als Problem, und dabei vor allem mündliches und schriftliches Ausdrucksvermögen, Disziplin, Motivation und Belastbarkeit. 58 Prozent beklagten unklare Berufsvorstellungen.

Davon kann auch der an Schulen in Marzahn-Hellersdorf tätige Berufswahlcoach Rainer Lang* ein Lied singen. „Neulich hatte ich eine Achtklässlerin im Beratungsgespräch, die als Berufswunsch Friseurin angab. Als ich mit ihr über das Anfassen und Waschen von Haaren anderer Menschen sprach, verzog sie angeekelt das Gesicht.“

Berater Nowack, der, wie er schätzt, seit 1979 etwa 11.000 Jugendliche und junge Erwachsene beraten hat, ärgert dieses Gerede von der Ausbildungsunreife: „Jugendliche in diesem Alter waren noch nie ausbildungsreif!“ Im Klartext bedeute dieser Begriff, für den es keine ernst zu nehmende Definition gebe, nichts anderes, als dass die Lebensplanung Jugendlicher nicht der von Erwachsenen entspreche: „Jugendliche sind wankelmütiger und unterliegen leichter Einflüssen von außen.“ Seine Definition lautet deshalb: „Ausbildungsreif ist, wer sich über seine Entscheidungskriterien im Klaren ist.“ Dazu müsse gute Beratung verhelfen. „Ich habe bei meinen Gesprächen – abgesehen von Menschen, die schwere familiäre Probleme hatten – kaum jemanden getroffen, der nicht irgendeine Vorstellungen von sich selbst und seiner beruflichen Zukunft gehabt hätte.“

Am Oberstufenzentrum (OSZ) Lotis in Tempelhof-Schöneberg gibt es beides: erfolgreiche Durchstarter und schwer vermittelbare Jugendliche. Hier drücken künftige Steuerfachgehilfen, Tourismus- und Immobilienfachleute die Berufsschulbank – überwiegend hoch motivierte SchülerInnen mit guten Schulabschlüssen, oft dem Abitur, berichten Andrea Kruschke, Lehrerin und Abteilungsleiterin, und Vera Jaspers, Leiterin des OSZ. „Da können sich die Betriebe schlicht noch die Rosinen aus dem Bewerberkuchen picken“, sagt Jaspers. Und gerade große Unternehmen wie die städtischen Wohnungsbaugesellschaften kümmerten sich teils vorbildlich um ihre Auszubildenden.

Für weniger Glückliche bietet das Lotis berufsvorbereitende Maßnahmen an: etwa für Jugendliche ohne Schulabschluss. Kruschke und Jaspers bestätigen Nowacks These: Es sei „oft der familiäre Hintergrund“, der darüber entscheide, wo ein Jugendlicher lande. „Fehlende Vorbilder“, erläutert Kruschke: kein Elternteil, das morgens aufstehe, um arbeiten zu gehen.

Grundvoraussetzungen wie Pünktlichkeit, Regelmäßigkeit und Durchhaltevermögen versuchen die LehrerInnen des OSZ deshalb ihren SchülerInnen zu vermitteln. Etwa 25 Prozent derjenigen, die ohne oder mit einfachem Hauptschulabschluss in Qualifizierungsmaßnahmen kommen, schafften es später direkt in eine Ausbildung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Damit das besser wird, müssten sich aber auch viele Betriebe umstellen, sagt Schulleiterin Jaspers: „Sie müssen einsehen, dass Auszubildende keine fertigen Mitarbeiter sind und dass auszubilden auch pädagogische Arbeit bedeutet.“

*Name geändert