So klappt’s auch…

...mit dem Selbstbewusstsein

VON ANNE-SOPHIE BALZER
(TEXT) & ELÉONORE ROEDEL (ILLU)

Liebes Selbstbewusstsein, vor 17 Jahren habe ich dich als vermisst gemeldet und hoffe insgeheim noch immer, dass du wiederkommst.

Ich war acht, als wir uns das letzte Mal sahen und hielt mich für sehr beliebt. Nur Isabel war noch gefragter, man nannte uns „Die Königinnen“. Eines Tages in der großen Pause, warf ich mein Radieschenbrot mit Kräuterbutter in den Müll und haute einem Jungen die Nase blutig, beides am gleichen Tag. Wilko petzte, es gab ein Tribunal. Auf der Anklagebank saß die Vollkornbrotverschwenderin/Jungsverhauerin. Das Ziel: Die Königin stürzen. Es hagelten die Gemeinheiten und aufgestauten Vorwürfe nur so auf mich herab. Blöd sei ich, eingebildet und zudem schlecht in Fadenspielen. Es fielen böse Worte wie „Bestimmerin“, „Angeberin“ und leise gezischt noch bösere, vor allem aus Isabels Ecke.

Dieses Ereignis muss dich sehr verstört haben, du bist anschließend ausgezogen, ohne Tschüss zu sagen.

Ich war verwirrt. Mochten mich die anderen Kinder etwa nicht? Hatten sie heimlich über meine selbst aufgeschnittenen Schlaghosen gelacht? Wollten mich die Jungs, die mir Briefe verziert mit roten Herzen schrieben, nur aufziehen? Langweilten sich alle, wenn ich die Pause nutzte, um von unseren Urlauben im Ausland (“…als wir in der Schweiz waren…“) zu erzählen? Und ahnten sie, dass jene „Unser Charly“-Folgen, die nur ich gesehen hatte, weil extra für meine Familie eigene Folgen gedreht worden waren (Folge 2019: Charly rettet ein brennendes Flugzeug vor dem Absturz), frei erfunden waren, weil wir doch gar keinen Fernseher besaßen?

Das ist lange her, doch zurückkommen wolltest du nie. Vielleicht hat es dir woanders besser gefallen. Nur brauche ich dich dringend, das Leben ohne dich ist nämlich verdammt schwer. Soll ich dir erzählen, wovor ich alles Angst habe?

Ich habe Angst, verlassen zu werden, Angst, dass andere schlecht über mich denken, Angst vor Spiegeln, Kellern, Parties, Gewittern. Angst, zu enttäuschen und selbst enttäuscht zu werden, Angst vor Sexszenen in Filmen, Keimen, Freibädern, vor Unordnung, gesperrten Konten, Stechmücken, Überfällen, Angst vor falschen Entscheidungen, Kontrollverlust, Nippelblitzern, Flugzeugen, Drogen und auch vor mir selbst. Vielleicht verstehst du jetzt, warum mein Leben mit dir einfacher wäre. Ohne dich ist die Welt grausam und ich fühle mich die meiste Zeit wie ein kleines Kätzchen, das auf die Autobahn gelaufen ist.

Das Buch der Psychologin Steffi Stahl heißt: „Leben kann auch einfach sein!“. Dieser Titel schien mir so furchterregend esoterisch und weltfremd zu sein, dass ich das Buch höhnisch grinsend in den virtuellen Einkaufskorb schmiss. Frau Stahl würde schon sehen, dass meine Probleme sich nicht durch einen Slogan bereinigen ließen.

Wenn du, liebes Selbstbewusstsein, also jetzt liest, dass ich mir sogar Bücher mit esoterischem Titel kaufe, um meine Angst vor allem und jedem in den Griff zu bekommen, hast du dann vielleicht Lust, wieder bei mir einzuziehen?

Frau Stahl sagt: „Sie müssen Ihre Unsicherheit akzeptieren. Das klingt banal, ist aber schwer.“ Jedes Mal, wenn mich jetzt die Angst packt, versuche ich tief ein- und auszuatmen, das hilft gegen das Herzrasen. Und ganz wichtig: Ich sage mir, dass dieser Charakterzug, diese Angst zu mir gehört und das in Ordnung ist. Der größte Unterschied zu selbstbewussten Menschen liegt nämlich darin, dass diese auch ihre Schwächen akzeptieren, so steht’s im Buch. Weil die doch gar keine Schwächen haben, Frau Stahl! Nein, uns fallen die Schwächen selbstbewusster Menschen nur gar nicht auf, weil diese entspannter mit ihnen umgehen, sagt die geduldige Psychologin.

Seite 123, „Leben kann auch einfach sein!“. Um meine Charaktereigenschaften und Persönlichkeitszüge einschätzen, annehmen oder überdenken zu können, soll ich eine persönliche Bestandsaufnahme machen, also all meine Gefühle, meine Charaktereigenschaften, Werte, Interessen, meine Stärken und Schwächen und meine Glaubenssätze aufschreiben. Ich schreibe unter der Rubrik negative Charakterzüge stolze 29 Stichworte, auf der Plusseite wollen mir nur acht einfallen.

Liebes Selbstbewusstsein, das Schlimmste an deinem Fortgehen ist, dass ich meine Stärken und Schwächen überhaupt nicht mehr selbst bewerten kann. Ja, ich bin regelrecht abhängig vom Zuspruch anderer. Frau Stahl sagt, dass sei bei jedem Menschen bis zu einem gewissen Maße so, wir sind ja nicht allein auf dieser Welt. Wenn ich wirklich einen Maßstab bräuchte, der grundsätzlich nie verkehrt sei, solle ich mich an Werten statt an anderen Menschen orientieren. Also eher an den Fragen: Was ist gut? Was ist richtig?, als an: Was würde Tanja/Tina/Tim wohl dazu sagen? Das ewige Gefallenwollen ist der schlimmste Feind selbstunbewusster Menschen. Und natürlich die Fehlinterpretation der eigenen Fähigkeiten. In meinem Kopf sind meine Schwächen riesig, ich könnte sie problemlos bis zum Mond stapeln. Aber mit der Stapelei, den ewigen Vergleichen ist jetzt Schluss, Herrschaftszeiten! Mission Selbstbewusstsein zurückerobern ist in Arbeit. Das klingt jetzt schon sehr selbstbewusst. Du siehst, ich strenge mich an. Komm doch bitte wieder.

Es muss ja nicht gleich für immer sein, mir würden schon regelmäßige Besuche genügen. Wir könnten entspannt plaudern, bei Waffeln und Kaffee. Ich bin jetzt schon ganz aufgeregt. Melde dich!