in fußballland
: Hekatomben von Schnipseln

CHRISTOPH BIERMANN hört sich „Das langsame Erschlaffen der Kräfte“ an und danktdem Autor Ror Wolf

Im Frühjahr vor zwei Weltmeisterschaften, der in Frankreich 1998, durfte ich nach Mainz fahren. Das an sich klingt nicht so wahnsinnig aufregend, doch ich war auf der Fahrt dorthin reichlich nervös. Immerhin war ich zum Interview bei einem Mann angekündigt, der nicht nur zurückgezogen lebte und sich äußerst selten befragen ließ. Überdies bewunderte ich seine Arbeit schon damals, von der ich eine als Picture Disc besaß. Es handelte sich dabei um jene heute sehr gesuchte als Ball gestaltete Langspielplatte aus Vinyl in durchsichtigem Cover, auf die zwei Radiosendungen gepresst waren, die ich mir häufig mit großem Vergnügen angehört hatte.

Ror Wolf wohnte damals über der Kupferberg Sektkellerei, was mir ein exzentrischer Ort zu sein schien, der aber mit einer schönen Aussicht über die Stadt gesegnet war. Er begrüßte mich mit derart sanftmütiger Freundlichkeit, dass meine Aufregung sogleich verflog. Bereitwillig sprach Wolf darüber, wie er zwischen 1967 und 1979 fast alle Fußballsendungen im hessischen Rundfunk auf Tonbänder aufgezeichnet und dieses Material in Themengruppen zergliedert hatte, seien es Torschüsse oder Wetterberichte, Versprecher oder missglückte Schaltungen in Stadien. Und wie er über den Umgang mit Hekatomben von Schnipseln sprach, erstand das Bild eines besessenen Sammlers der Töne, der sie in tausenden Stunden strukturiert und transkribiert, vorgeschnitten und umkopiert hatte. „Rückblickend verstehe ich mich selbst nicht“, sagte Ror Wolf.

Doch er beschränkte sich nicht auf diese Fischzüge durch den Radiokosmos, sondern zog wie ein Ethnologe in Fankneipen oder machte Field-Recordings am Riederwald in Frankfurt, wo er das Gerede der Kiebitze am Trainingsplatz der Eintracht aufzeichnete. In den zehn Fußballhörspielen, die auf diese Weise entstanden, arbeitete er teilweise noch selbst geschriebene Fußballtexte ein und schritt dabei verschiedene Bereiche des Spiels ab. Er widmete sich der Schiedsrichter („Merkwürdige Entscheidungen“), der Sentimentalität von Fans („Die alten Zeiten sind vorbei“) oder komischer Radiopannen („Schwierigkeiten beim Umschalten“). Das war auf verblüffende Weise erhellend, wenn man etwa hörte, dass die Weltmeisterschaft 1974 eine der Blasmusik war, und manchmal war es einfach nur sehr komisch. Wolf hat seine Hörstücke auch in Büchern veröffentlicht, doch eigentlich muss man sie hören, weshalb es richtig ist, dass nun in einer Box mit vier CDs seine „Gesammelten Fußballhörspiele“ erschienen sind, die Jürgen Roth für Intermedium Records liebevoll herausgegeben hat.

Der 1932 geborene Wolf ist übrigens ein später Fußballfan, der sich erst mit Anfang 30 für das Spiel zu interessieren begann, als ihm die Fußballreportagen im Radio zur Nabelschnur in die Heimat wurden, während er in St. Gallen in der Schweiz lebte. Diesen späten Fan kann man für seine literarische Arbeit loben und für sein musikalisches Gespür, Hörstücke zum Fließen zu bringen, aber Wolf ist auch ein guter Fußballfan, weil er sich nie über das Spiel erhoben hat. Er ist einer der wenigen literarischen Autoren, die sich mit Fußball beschäftigt haben und deren Leidenschaft für das Spiel jenen heiligen Ernst auszeichnet, der auch das Leichte und Komische erst möglich macht.

Als der Hessische Rundfunk im Laufe des Frühjahrs 1979 Wolfs letzte Reihe Fußballhörspiele sendete, war darunter auch sein 14 Minuten 56 Sekunden langes Meisterwerk „Der Ball ist rund“. Ror Wolf kam zu dem Schluss, „es kann von mir nicht überboten werden“, wie er mir damals erzählte, und beendete nach zwölf Jahren die Arbeit an diesem Stoff.

Fast drei Jahrzehnte später hat er gemeinsam mit dem Herausgeber der CD-Box aus vielem lange liegen gebliebenem Material „Das langsame Erschlaffen der Kräfte“ angefügt. Dieses Nachwerk ist ein schöner Anlass, auch noch einmal den anderen Fußballhörspielen zu lauschen und Ror Wolf herzlich dafür zu danken.