SERBIEN: DAS BEGRÄBNIS VON MILOŠEVIĆ ZEIGT, WO DIE MEHRHEIT STEHT
: Lieber Held als schuldig sein

Das Hickhack um den Tod Milošević’, um seine Beerdigung, die aufgewühlten Emotionen, die Verschwörungstheorien und die Ablehnung des UN-Tribunals in Den Haag zeigen: Die serbische Gesellschaft ist noch lange nicht mit sich im Reinen. An Milošević zeigt sich die Spaltung der Nation, mehr noch: Sie zeigt die wirklichen Kräfteverhältnisse.

Auch weiterhin verehren die meisten Serben Slobodan Milošević, der das Land nicht nur in den militärischen und wirtschaftlichen, sondern auch in den moralischen Verfall geführt hat. Milošević ist in ihren Augen selbst ein Opfer äußerer Mächte, die gegen das Volk gerichtet sind. Wer angesichts seines Todes darüber klagt, welches Leid die Serben noch ertragen müssten, verschwendet nicht einen Gedanken an die Opfer, die er zu verantworten hat.

Milošević ist dabei keine Person, sondern Teil des Volkskörpers. Dieses kollektive Denken ist typisch für die Landbevölkerung. Aber auch in den Städten ist das Denken an individualisierte Schuld nicht immer mehrheitsfähig. Das bürgerliche Belgrad mit seinen Intellektuellen, seinem Kulturleben, den mit modernen Technologien umgehenden aufstrebenden Mittelschichten, den Menschenrechtsgruppen und all jenen Zynikern, die zur Stadtkultur gehören, ist da zwar ein Fels in der Brandung. Doch viele Leute aus dieser Szene haben die Stadt bereits in Richtung Ausland verlassen.

Die proeuropäischen Demokraten, die im Land bleiben, tun sich schwer. Sie haben den Emotionen des Kollektivismus wenig entgegenzusetzen. Eine tief greifende gesellschaftliche Diskussion über die Zukunft des Landes hat seit dem Sturz Milošević’ im Jahr 2000 nicht stattgefunden. Die marktwirtschaftlichen Reformen brachten Arbeitslosigkeit. Die Reformer haben nur eine vage europäische Zukunft anzubieten, die den Menschen auch noch das Schuldeingeständnis an den Kriegen abverlangt. Denn in den Augen der meisten saß nicht das Individuum Milošević, sondern die Nation auf der Anklagebank. Solange sie das Tribunal in Den Haag so empfinden, finden sie den Weg nach Europa nicht. ERICH RATHFELDER