Eine Art von Verlorenheit

Clemens Meyer erzählt in seinem Debütroman „Als wir träumten“ präzise und gekonnt von Crashkids, Speedfreaks und Hooligans in Leipzig-Ost – so viel beschädigtes Leben war lange nicht mehr in der deutschen Gegenwartsliteratur

Gut, dass sich Meyer kein Stück für den literarischen Nachweis gesellschaftlicher Missstände interessiert

Natürlich hätte auch das Bier an allem schuld sein können. Nicht das herbe Holsten, das gerade erst seinen Siegeszug im Osten angetreten hatte, sondern das gute alte Leipziger Premium Pils, das Daniel und seine Freunde direkt vom Hof der Brauerei besorgten: „Es war der Mittelpunkt unseres Lebens. Der Ursprung durchsoffener Nächte auf dem Vorstadtfriedhof, endloser Zerstörungsorgien und Tänze auf Autodächern.“ Als Daniel begreift, dass es nicht allein um Bier, Spaß und Randale geht, sondern um eine „Art von Verlorenheit“, die sich „nur schwer erklären lässt“, ist es längst zu spät, um noch etwas zu ändern. Es dauert nicht lange, und Mark wird sich eine Überdosis in die Venen jagen und der kleine Walter einen gestohlenen Wagen gegen die Wand fahren, und immer wird einer der Kumpels bei den Beerdigungen nicht dabei sein, weil er gerade im Knast sitzt.

Das ist Clemens Meyers Debüt „Als wir träumten“: ein Roman über eine Clique von Autoknackern, Hooligans und Drogensüchtigen, die 1989 vierzehn oder fünfzehn Jahre alt sind und von einem Tag auf den anderen ihre kleinen Vergehen wie das Schwänzen eines Pioniernachmittags gegen so klangvolle Delikte wie „Hausfriedensbruch“, „schwere Körperverletzung“ und „bewaffneten Überfall“ eintauschen. Dass es hier auch um die „Wende“ und ihre Folgen geht, ist kaum zu übersehen, doch von der sanften Melancholie, mit der Jana Hensel und andere „Zonenkinder“ den Verlust ihrer Heimat beschrieben haben, ist in diesem Roman genauso wenig zu spüren wie von dem Grauschleier der neuen Normalität, die Autoren wie Ingo Schulze oder Christoph Hein in den Neunzigerjahren beschäftigt hat. In Reudnitz im Osten von Leipzig sieht die Wirklichkeit anders aus: Rico will Profiboxer werden, verbringt aber die meiste Zeit im Gefängnis, Fred ist stolz auf sein dickes Vorstrafenregister, und während Paul die größte Sexhefte-Sammlung des Viertels besitzt, schlägt Stefan, genannt „Pittbull“, eines Nachmittags fast seinen Vater tot und macht dann in Drogen.

Vergessen wir also ganz schnell die verklemmten Realismusdebatten der letzten Jahre. So viel beschädigtes Leben war lange nicht mehr in der deutschen Gegenwartsliteratur, und inmitten der Auswahl von Nominierungen für den Leipziger Buchpreis wirkt „Als wir träumten“ mit seinen blutig geprügelten Nasen, billigen Drogen und „Trainspotting“-Allüren fast ein wenig anstößig: Im Gegensatz zu Großbritannien tauchen Crashkids, Speedfreaks und Neonazis hierzulande eben höchstens mal in engagierten Jugendbüchern auf – oder gerade noch in solide recherchierten, aber seelenlosen Romanen wie Friedrich Anis „German Angst“.

Dankbarerweise interessiert sich Clemens Meyer, der 1977 in Halle geboren wurde und heute in Leipzig lebt, nun kein Stück für den literarischen Nachweis gesellschaftlicher Missstände, sondern vor allem für den ungeheuren Reichtum von Geschichten inmitten eines Alltags, der sich zwischen dem dritten Bier bei „Ralf’s Corner“ und den weiß gekalkten Zellen der Jugendarrestanstalt abspielt – ein trostloser, selbstmörderischer Alltag, der trotz allem in manchen Momenten so golden leuchten kann wie der Apfelkorn, den Daniel, Rico und die anderen in der Kaufhalle klauen und an den Wirt ihrer Stammkneipe verkaufen.

Es passiert halt einfach nur so verdammt viel. Obwohl Daniel als Erzähler zu Beginn noch versucht, seine Albträume unter Kontrolle zu halten und sich „einen Zipfel der Bettdecke zwischen die Zähne schiebt, um nicht von den wilden Zeiten zu erzählen“, reiht sich dennoch schnell eine kaputte Erinnerung an die nächste.

Zuletzt sind es mehr als 500 Seiten. Das ist natürlich zu viel – schließlich ist das hier nicht „Krieg und Frieden“, und zudem reichen die ersten 80 Seiten bereits für eine 3-Tage-Depression. Aber man sieht es Meyer gern nach, vor allem, weil er so ein irrsinnig präziser Erzähler ist. Es gibt da zum Beispiel diese Stelle, an der Daniel nach drei Monaten Haft wieder nach Hause kommt und seine Mutter ihm mitten am Tag leicht angetrunken mit einem Glas Schnaps in der Hand die Tür öffnet. Immerhin: „Sie hatte ihren guten Bademantel an.“ Wer seine Adjektive so sicher platziert, darf auch 1.000 Seiten schreiben. KOLJA MENSING

Clemens Meyer: „Als wir träumten“. Fischer, Frankfurt am Main 2006, 528 Seiten, 18,90 €