Der Geruch des Ostens

Zwei englisch-deutsche Liebesnächte 1961 und 1983 in Leipzig und wie sie das Leben eines jungen Engländers verändern: Nicholas Shakespeares deutscher Wenderoman „In dieser einen Nacht“

von GERRIT BARTELS

Tatsächlich nennt ihre Großmutter sie „Snjólaug“. Nicht Snowleg, wie es der junge Peter Hithersay an diesem grauen Leipziger Winternachmittag versteht und ausspricht, er ist schließlich Engländer. „Snjólaug, das ist Isländisch“, korrigiert sie ihn. Isländerin ist sie nicht, sondern DDR-Bürgerin, und isländische Vorfahren hat sie auch nicht. Aber es gab da eben ihren Großvater, der in den frühen Zwanzigerjahren zwei Jahre in Kanada verbrachte, dort den richtigen Umgang mit Fellen lernte und eine Saison bei einem isländischen Indianer und seiner Frau wohnte. Snjólaug hieß diese Frau, und sie war es, die ihm beibrachte, wie man Bisamratten abzieht und Kaninchenhäute mit der Hand bleicht. Als der Großvater zurückkehrte, nutzte er dieses Wissen und baute ein Kürschnergeschäft auf: „Deshalb nennt mich meine Großmutter Snjólaug“, erklärt Snowleg abschließend, „weil sie ihr den Lebensunterhalt verdankten“.

Es ist dies eine Geschichte, die ein passionierter Fabulierer wie der britische Schriftsteller Nicholas Shakespeare einfach erzählen muss. Sie ist umwegig, sie ist kompliziert, charakterisiert aber auf ihrer Benutzeroberfläche perfekt Shakespeares jetzt auf Deutsch unter dem Titel „In dieser einen Nacht“ vorliegenden neuen Roman. Denn so wie Snowleg nur ein Kosename ist und eben anders ausgesprochen wird, so wie Peter Hithersay ihren bürgerlichen Namen nicht erfährt und bei Snowleg schon bald nicht mehr unterscheiden kann zwischen Liebe, Schuld und Stasi-Verdächtigungen, so überwiegen auch in seinem Leben und überhaupt in diesem Roman die Um- und Abwege und Komplikationen. Hithersay hat Probleme mit seiner Identität, auch er ist nicht der, der er bis zum 16. Lebensjahr zu sein glaubte: der Sohn eines englischen Glückwunschkartenmalers und seiner Frau, einer Bach-Liebhaberin, die als einstige Gesangschülerin an einem Johann-Sebastian-Bach-Wettbewerb in Leipzig teilnahm.

Nein, es stellt sich heraus, dass Peter 1961 in einem Örtchen nicht unweit von Leipzig gezeugt wurde, und zwar in dieser einen Nacht, die seine Mutter mit einem politischen DDR-Häftling verbrachte, dem sie kurz zuvor zu fliehen geholfen hatte. Als Peter über seine Herkunft in Kenntnis gesetzt wird, beginnt er sich für Deutschland zu interessieren und studiert bald darauf in Hamburg Medizin. Mag es ihm unmöglich erscheinen, mehr über das Schicksal seines Vaters zu erfahren – Deutschland ist geteilt, die bürokratischen Hindernisse sind groß –, so nutzt er doch die Gelegenheit, 1983 zur Zeit der Buchmesse mit einer befreundeten Theatergruppe nach Leipzig zu kommen. Wie für seine Mutter entscheidet sich in dieser einen Nacht, in der er Snowleg kennen lernt, sein Schicksal. Er verliebt sich. Und er versagt, als es darum geht, Snowleg aus der DDR herauszubringen: Er verleugnet sie.

Man benötigt Platz, um die Handlung dieses Romans nachzuerzählen, so wie auch Shakespeare Zeit und Seiten braucht, um seine Geschichte in die Spur zu setzen und die Gebrochenheiten und den zukünftigen Leidensweg seines Helden darzustellen, und das alles an den Ereignissen in Deutschland entlang. Erst 2002 reist Hithersay, jetzt ein angesehener Geriater, wieder in seine Schicksalsstadt, der Tod einer alten Patientin veranlasst ihn, sich doch noch in Leipzig auf die Suche nach Snowleg zu machen.

Angenehm unbefangen und abwechslungsreich geht der weltläufige, sich in Lateinamerika ebenso gut wie auf Tasmanien auskennende Engländer Shakespeare mit der deutschen Teilung und Wiedervereinigung um, speziell mit der Stasi-Problematik; nichts wirkt da aufgesetzt und schwer stapfend wie oft bei den deutschen Kollegen. Zumal er immer zuerst an seine eigenartige Romanze denkt, an seinen verästelten Plot und die Ereignisse in Leipzig 1983 (wobei vieles, so Shakespeare in der Danksagung, auf wahren Begebenheiten beruht), an die Entwicklung seines Helden zwischen Verdrängung, Schuld und deutschen Zuständen.

Dabei kommt er zwar nicht ohne Beobachtungen und Eindrücke hart am Rande des Klischees aus, nicht ohne den von Braunkohleasche durchsetzten Regen, nicht ohne Plastikbeutel, Überwachungskameras im Gartenzwerg, Wolfaseptgeruch im Stasi-Museum oder aggressive rechte Jugendliche. Nur stellt sich eben die Frage: Wenn es wirklich so war und ist? Wenn die Wahrheit zum Klischee geworden ist, das Klischee aber nichts weiter verbirgt? Wenn man tatsächlich in einem Krankenhaus in Berlin-Weißensee als ein aus dem Westen kommender Arzt dafür gescholten wurde, nicht jeden Tag jedem Mitglied des Pflegepersonals die Hand zu schütteln oder nach Dienstschluss selten „schönen Feierabend“ zu wünschen?

Nicholas Shakespeare weiß daraus immer wieder Kapital zu schlagen, ihm geht es um die Wahrhaftigkeit seiner Geschichte, der er so zu ihrem eigenen Recht verhilft. Der Irrsinn der Stasi etwa, zwei Liebende beim Akt abzuhören oder Geruchsproben in Gläsern zu sammeln. Oder die Nachwendefrustrationen einer alten Theatergarderobenfrau in einer Leipziger Plattenbausiedlung – das ist für Shakespeare Romanmaterial, das sich einfach herrlich erzählen lässt; und es ist ihm ein Vergnügen, den Leser bis zum Schluss an der langen Leine zu führen.

Schon früh weiß man, dass die alte Dame in dem Altersheim Snowlegs Großmutter ist, dass der Roman auf ein Wiedersehen von Peter und Marla „Snowleg“ Berking hinausläuft. Doch dauert dann das Wiedererkennen bis zum letzten Satz, und wie Shakespeare das alles hinauszögert, das ist großer literarischer Sport und großes Kino zugleich.

Nicholas Shakespeare: „In dieser einen Nacht“. Aus dem Englischen von Hans M. Herzog. Rowohlt, Reinbek 2006, 536 Seiten, 22,90 €