berliner szenen Das Alphabet der Stadt

O wie Oberschöneweide

Obwohl noch alles steht, sieht es sehr abgerissen aus hier. Die Trümmer von Elektropolis, der ehemaligen Lichtindustriehochburg im Osten der Stadt. Oberschöneweide bei Schneeregen. Das AEG-Werk ist noch da, es steht neben der Post und dem neuen Einkaufszentrum am Ende der Edisonstraße.

Die Tram kommt aus Schöneweide und fährt durch bis Karlshorst. Folgt man der Strecke, läuft man durch graue Mietskasernen, die aussehen wie in Gelsenkirchen 1978. Am Rand behaupten sich ein paar Geschäfte: eine Videothek, ein „Insolvenzwarenkaufhaus“, gegenüber ein „Sozialladen“. In „Ellis Preisrakete“, einem Ramschladen, hängt ein Hochzeitskleid aus.

In einem Hauseingang warten gut gelaunte Hausierer auf eine Trockenperiode. Sie scherzen. Eine blicklose Blondine eilt vorüber. Unter den Markisen ihres Geschäfts pausieren junge Bäckerinnen und halten ihre Zigaretten aufrecht. Vor St. Antonius drei Teenager mit Hund. Ein Mofafahrer mit Stahlhelm fährt vorbei. Als die Teens sich beobachtet fühlen, werden sie still. Der Hund schnüffelt an der Kirchentür.

Vor der Christuskirche hat sich trotz des Wetters eine Menschentraube gebildet. Ein Schild weist hin: „Offene Kirche 15–18 Uhr“. Die Traube tritt von einem Fuß auf den anderen, sie wirkt unruhig. Fühlt sich wohl auch beobachtet. Die Kirche jedenfalls scheint noch geschlossen zu sein.

In einer Seitenstraße rennt ein Kind hinter seiner Mutter her. Hinter quietschenden Scheibenwischern der Traum von Schönwetterdepressionen. Ein Auto steht mit laufendem Motor vor einer Schule, in der nichts mehr los ist. Es ist Nachmittag. Der Fahrer schaut mürrisch. Legt einen Gang ein und fährt weg.RENÉ HAMANN