Der blitz-blanke Lappen

Die Wahrheit-Woche der Leichen im Keller: Als Glasbruchmann unterwegs

Beim Umzug fiel er mir nach 24 Jahren wieder in die Hände: der Dienstausweis der Gebäudereinigungsfirma Blitz-Blank in Bielefeld, der mich berechtigte, als Glasreiniger zu arbeiten. Am 28. 2. 1982 hatte mein 16-monatiger Zivildienst beim Arbeiter-Samariter-Bund geendet. Wie man putzt, hatte ich dort gelernt: Der mobile soziale Hilfsdienst, den der ASB anbot, stellte alten Leuten, die Hilfe im Haushalt brauchten, Zivildienstleistende als preisgünstige Reinigungskräfte zur Verfügung.

Nun also das Arbeitsleben, die Reinigungsbranche. Mir war ohnehin alles egal. Es ging mir hundsmiserabel. Drei Monate zuvor hatte ich mit meinem Freund und Mitmusiker Wolfgang Kornfeld ein Konzert der Frankfurter Band Straßenjungs im Jugendzentrum Bielefeld-Baumheide besucht. Die Band war Klasse, wir amüsierten uns, tanzten wohl auch etwas Pogo, während die etwa 30 anderen Konzertbesucher eher unfroh an der Wand lehnten, Bier tranken und einen missmutigen Eindruck machten. 95 Prozent der Anwesenden waren junge Männer, die Luft war voll Testosteron und wild gewordenem Eiweiß.

Als Kornfeld pinkeln ging, passierte es. Vier Baumheider traten näher und kreisten mich ein. Weglaufen war unmöglich. „Ey, Schwuler“, sprach der größte von ihnen mich an, „was willst du hier?“ Ich nahm die Fäuste hoch. „Ey, Schwuler“, wiederholte er und griff tiefer in die Schatzkiste seines Wortschatzes. „Ohrring rechts ist schwul. Und hier gibt es keine Schwulen.“ Er schlug zu, traf mich am Kopf, einen Hieb konnte ich ihm noch zurückgeben, dann prasselten die Schläge von allen Seiten auf mich ein. Ich ging zu Boden, sie traten zu. Ich rollte mich zusammen, versuchte, Gesicht und Genitalien zu schützen. Eine Stimme, deren Besitzer erst höchstens 14 Jahre alt sein konnte, fragte: „Darf ich auch?“ Der Anführer gestattete das gönnerhaft: „Ja klar.“ Die Spitze eines Cowboystiefels traf meinen Kopf. Ich versuchte hochzukommen, weitere Tritte zwangen mich auf den Boden zurück. Ich sah schwarz für mich.

Plötzlich gab es Geschrei und Tumult. Kornfeld hatte den Zivildienstleistenden des Jugendzentrums alarmiert; der Mann hatte bei den Schlägern ein bisschen Autorität. Er brüllte sie zusammen, Kornfeld zog mich hoch. „Haut ab!“, riet uns der Zivildienstleistende dringend. Nichts anderes hatten wir vor. So schnell es ging, machten wir uns auf den Weg zum Auto. Als wir saßen, war die Meute da, prügelte auf die Karre ein und zerrte an den verriegelten Türen. „Gebt Vollgas!“, rief der Zivildienstleistende, Kornfeld tat, wie ihm geheißen, zwei der Schläger spritzten in letzter Sekunde beiseite. Wir waren entkommen.

Im Krankenhaus durften wir lange warten, und der Arzt, der mich untersuchte, behandelte mich, als hätte ich die Schlägerei angefangen. Ich war nicht sprechfähig; erst als Kornfeld ihm die Angelegenheit geschildert hatte, nahm sich der Arzt ernsthaft meiner an. Ich hatte Glück gehabt. Zwar war mein Körper ein einziges Hämatom und mein Kopf schmerzte entsetzlich, aber gebrochen oder zerrissen war nichts. Einen Bluterguss direkt unter einem Ohr betrachtete der Arzt sorgenvoll. „Das war knapp“, sagte er.

Anderntags wurde ich für vier Wochen krankgeschrieben. Ich lag zu Hause im Bett und war wie gelähmt. Das Bett teilte ich mit meiner Freundin Sabine. Wir waren seit einem halben Jahr ein Paar, ich war bei ihr und ihren beiden Katzen eingezogen. Bald schon sprach sie von Kindern. Ich war rasend verliebt, aber ein Rest von mir war doch bei Verstand. „Du bist 21 und studierst, ich bin 20 und mache Zivildienst“, sagte ich. „Wir haben Zeit. Kinder können wir später noch machen.“ Sie sah das anders.

Das tat auch mein älterer Bruder, der in Göttingen studierte. Meine Freundin und er hatten sich immer gemocht, jetzt hatte Sabine auf einmal Seminare in Göttingen, und eine gute Freundin gab es dort auch zu besuchen. Ich ahnte alles und wollte nichts wissen. Es war zu schmerzhaft, ich ließ die Wahrheit nicht an mich heran, ich fürchtete wohl, sie würde mich umbringen. Irgendwann kamen die beiden mit der Sache heraus. Es war ekelhaft, schlimmer als die Schläge und Tritte in Baumheide. Sabine war schwanger, mein Bruder hatte ihr den Wunsch erfüllt. Der Heiratstermin stand schon fest, die Feier sollte im Haus meiner Eltern stattfinden, und die fürchteten, dass ich die schöne Veranstaltung stören könnte, nach Art Dustin Hoffmans in dem Film „Die Reifeprüfung“. Für den Festtag bekam ich Hausverbot, was mich aber ohnehin nicht mehr ernsthaft erreichte. Ich war weg, aus der Welt, völlig verstört. Als ich merkte, dass ich abends neben den Bahngleisen entlanglief, wusste ich, dass ich auf mich aufpassen musste.

Das taten auch ein paar andere, Freundinnen, Freunde, Zivildienstkollegen. Und ich hatte eine Band. Die Musik war ein Ventil. Geld verdienen musste ich anderswo. Ein ehemaliger Zivildienstkollege, der bei der Reinigungsfirma mit dem grandiosen Namen Blitz-Blank angeheuert hatte, brachte mich dort als Aushilfe unter. Der Stundenlohn war nicht doll, aber es war Geld, für die Miete, das Essen, was man so brauchte. In der Herforder Wohngemeinschaft lag ein Palästinenserfeudel als Decke auf einem kleinen Tisch. Ich wusch das Ding, band es mir um den Hals und ging zur Arbeit. So hatte ich immer ein Trockentuch dabei, was für einen Fensterputzer eine gute Sache ist.

Dass Deutsche, die einen Palästinenserlappen tragen, sich in Antisemitismusverdacht begeben, war mir nicht klar. Heute würde ich gern eine Zeitschrift mit dem Titel Das finden Sie wohl auch noch itzig!? gründen und sie den bösartig verkitschten deutschen Linken um die Ohren hauen, die ihren Hass auf Israel und die Juden als Liebe zum palästinensischen Volk verklären. Und für die Philosemiten, die jede Kritik an der Politik der USA unter Bush als antisemitisch denunzieren, hätte ich dort auch noch ein paar passende Worte übrig.

Aber damals, im März 1982, mit 20? Meine Gedanken waren sonst wo. Auch bei der Arbeit war ich nicht bei der Sache. Als ich versehentlich eine Leiter in eine große, schwere Glastür fallen ließ und mit dem Glasbruch angeblich einen Schaden von mehreren tausend Mark verursachte, war Schluss. Die Firma Blitz-Blank war zwar versichert, warf mich aber raus. Es war mir so was von gleichgültig.

Das alles fiel mir wieder ein, als ich vor ein paar Wochen beim Kramen in Umzugskisten meinen alten Blitz-Blank-Dienstausweis in die Hand nahm. Die Naivität gegenüber dem Pali-Feudel und all die anderen Leichen in den Kellern. Schon seltsam, wie leicht man vergisst, dass alles, was man tut, für immer ist.

WIGLAF DROSTE