Lektion in moderner Musikgeschichte

MUSIKALISCHE SCHATZSUCHE IM 20. JAHRHUNDERT „Oberst Chabert“, das Erfolgsstück des Komponisten und Literaten Hermann Wolfgang von Waltershausen aus dem Jahr 1912, hatte an der Deutschen Oper Premiere – nicht inszeniert, aber sehr gut gesungen und gespielt

„Oberst Chabert“ ist eine wirklich gute, große Oper, spannend wie ein Psychokrimi

Die Deutsche Oper arbeitet unter der Leitung von Kirsten Harms beharrlich daran, die Musikgeschichte des letzten Jahrhunderts umzuschreiben. Das ist unbedingt notwendig, denn anders als in allen anderen Kunstgattungen sind hier immer noch Begriffe im Gebrauch, die ihren Sinn längst verloren haben: Es gibt hier immer noch „Neue Musik“, und „Alte Musik“, es gibt „moderne Opern“ und „klassische Opern“. Was es nicht gibt, ist die Postmoderne, in der wir tatsächlich leben, eine Zeit also, in der Kunstwerke reproduzierbar und ihre jeweiligen Entstehungsdaten lediglich chronologische Tatsachen ohne jede ästhetische Bedeutung sind.

Die Oper „Oberst Chabert“ des Komponisten, Hochschullehrers und Schriftstellers Hermann Wolfgang von Waltershausen ist 1912 in Frankfurt uraufgeführt worden und hatte sofort überall großen Erfolg. Fast jede Bühne in Deutschland hat das Stück aufgeführt, sehr oft miserabel und „verhunzt“, wie von Waltershausen in seinen Erinnerungen anmerkt – ohne Zorn übrigens, denn dem vornehmen Freiherrn waren persönliche Exaltationen und ästhetische Grabenkämpfe völlig fremd. Ein konservativer Geist zweifellos bis zu seinem Tod 1954.

Als er 1926 in München mit Adolf Hitler zusammentraf, lachte er den schwadronierenden Parteiführer einfach nur aus. Das kostete ihn später sein Amt als Leiter der Münchener Akademie für Tonkunst. 1912 war von Waltershausen 30 Jahre alt, und die Moderne modern, aber nicht in München und seine Oper war es erst recht nicht. Heute, 98 Jahre danach, teilt sie dieses Schicksal mit der Moderne von damals. Die Worte „modern“ oder „konservativ“ sind nur noch Beschreibungen von musikalischen Techniken und Stilmerkmalen und keine Urteile über die Qualität eines Werkes.

„Oberst Chabert“ ist eine wirklich gute, große Oper, spannend wie ein Psychokrimi, plastisch und elegant illustriert durch eine perfekt komponierte und instrumentierte Musik, in der keine Note zu viel ist. Schlicht ein Meisterwerk, das auf der überaus wirkungsvoll durch den Komponisten selbst dramatisierten Novelle „La comtesse à deux maris“ von Honoré de Balzac beruht und es ohne Weiteres mit allem aufnehmen kann, was die Zeitgenossen Strauss und Hofmannsthal zusammen produziert haben. Was dort oft nur lautstark ideologisch überfrachtete Botschaften vermitteln will, klingt bei Waltershausen klar und lakonisch knapp formuliert. Ein längst totgeglaubter Offizier der napoleonischen Armee kehrt nach Hause zurück, wo seine Frau längst einen anderen liebt und geheiratet hat. Präzise wie ein Gerichtsprozess verläuft das Drama, das sich daraus notwendigerweise ergibt und unausweichlich mit dem Tod des Paares enden muss.

Die Deutsche Oper hat den wundervollen Bariton Bo Skovhus verpflichtet, mit ihm singen Raymond Very und Manuela Uhl, begleitet von Jacques Lacombe am Pult des Orchesters. Sie sorgen dafür, dass musikalisch nichts verloren geht von diesem Stück, das ja nur im Repertoire des üblichen Opernbetriebs verloren ist und nicht in einer Musikgeschichte, die ernsthaften wissenschaftlichen Ansprüchen standhält. Dort ließe sich seine Bedeutung leicht herausarbeiten. Natürlich steht es wie alles in jener Zeit unter dem Einfluss des Werkes von Richard Wagner, es gibt aber auch Bezüge zu Puccini oder sogar zur Operette.

Völlig zu Recht hatte Kirsten Harms geplant, mit einer Inszenierung dieses Werkes einen Höhepunkt der Saison zu setzen. Doch das Projekt scheiterte am Sparhaushalt der Deutschen Oper. Übrig blieb nur eine konzertante Aufführung, die Harms’ Ehemann Bernd Damowski mit Videoprojektionen der Sänger verziert hat. Sie stören nicht weiter, können aber natürlich nicht leisten, was nötig wäre, diese große Oper ins öffentliche Bewusstsein zurückzuholen. Gestern Abend fand die einzige und letzte Wiederholung der Premiere vom Freitag statt, danach ist es wieder still um den Freiherrn von Waltershausen und seine Musik. NIKLAUS HABLÜTZEL