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LESERINNENBRIEFE

Ich heulte wie ein Schlosshund

■ betr.: „Angst. Scham. Ohnmacht“, taz vom 14. 8. 13

Herr Reichert, ich verstehe Sie sehr gut. Vor einigen Jahren waren wir mit unserem Sohn in München und sahen uns die Christopher-Street-Day-Festivitäten an – ich war begeistert! Zum Schluss allerdings heulte ich wie ein Schlosshund: Wir standen vor einem Wagen, wo ein riesiges Plakat hing, auf dem zwei bildhübsche junge Männer aus dem Irak abgebildet waren, mit einer Schlinge um den Hals. Dieses Bild verfolgt mich bis heute. Und wann auch immer jemand in meiner Gegenwart glaubt, lästern zu müssen, hat er das Vergnügen, sich meine Meinung anhören zu dürfen. Zumindest erreiche ich hin und wieder, dass diese Menschen ein wenig nachdenklich werden. NAME und Anschrift sind der Redaktion bekannt

Verlorener Zahn bleibt unersetzt

■ betr.: „Reich in der Mitte“, taz vom 10. 8. 13

Ich entstamme einer Unterschichtsfamilie und erfüllte lange Zeit klischeehaft die Erwartungshaltung der Gesellschaft an eine Frau dieser Schicht. Im Alter von über 40 Jahren entschloss ich mich noch mal zu einer Ausbildung, machte mein Abitur und studiere heute mit 51 Jahren. Im Jahr 2008 setzte ich mich im Rahmen des Abiturs mit Schichtzugehörigkeit auseinander. Ich nahm das erste Mal bewusst eine Statistik zur Milieubestimmung durch Einkommensgrenzen wahr. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat Langzeitstudien über die Einkommenssituation von Haushalten unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung erstellt. Durch Umrechnung in sogenanntes Äquivalenzeinkommen wurden diese vergleichbar gemacht. Ich stellte mit Überraschung fest, dass ich zur Mittelschicht gehöre. Mir war zu diesem Zeitpunkt bewusst, dass ich ein anderes Konsumverhalten als ein Hartz-IV-Bezieher praktizieren kann. Aber Mittelschicht, mit meinen finanziellen Engpässen, ohne jegliche Ersparnisse, erschien mir absurd.

Erst vor ein paar Monaten, als ich mich im Rahmen des Studiums erneut intensiv mit Schichtzugehörigkeit auseinandersetzte, verstand ich, warum ich heute Mittelschicht bin. Streng mathematisch wird die Bevölkerung in zwei Hälften geteilt. Der Bereich um den Übergang herum wird als Mittelschicht bezeichnet. Dann wird ermittelt, was diese Gruppe verdient. In unserer neoliberalen Zeit mit der starken Zunahme von atypischen Arbeitsverhältnissen, mit beschönigenden Arbeitslosenstatistiken, mit massiver Ungleichverteilung von Ressourcen fließt immer mehr Geld in die obere Hälfte. Die Einkommensgrenze wird dadurch immer mehr gesenkt. Deswegen bin ich plötzlich Mittelschicht. Eben weil einige viel zu viel verdienen und besitzen. Da bleibt für den Rest weniger. Das Shifting-Baseline-Syndrom bezeichnet ein Phänomen verzerrter und eingeschränkter Wahrnehmung von Wandel. Deswegen sehen sich die exemplarisch vorgestellten Familien nicht als reich.

Auch ich wünsche wieder als Unterschicht bezeichnet zu werden. Nicht weil ich das gerne wäre, sondern weil es der Wahrheit entspricht. Ich komme gerade so über den Monat. Ich kann keine Rücklagen bilden. Ich kann nicht für mich eigenverantwortlich sorgen. Der verlorene Zahn bleibt leider unersetzt. Das beantwortet jetzt nicht die Frage, ab wann man reich ist. Erklärt aber, warum die Menschen im Bericht sich nicht als reich empfinden.

JUTTA OEL, Fernwald

Der Lehrer wird es richten

■ betr.: „Der Gral des Lernerfolgs“, taz vom 14. 8. 13

„Auf den Lehrer kommt es an.“ Mit John Hattie hat die Bildungsforschung einen neuen Star. Der Lehrer nimmt sich nicht zurück, um im „offenen Unterricht“, in kleinen Klassen, in jahrgangsgemischten Gruppen das Lernen zu begünstigen, er steht im Fokus der Forschung. Und er steht wieder ganz weit vorne für einen gelingenden Unterricht. Aber was ist guter Unterricht und was ein guter Lehrer? In der Referendarsausbildung in Baden-Württemberg wird von den LehrerInnen wieder „Kante“ verlangt. „Ihr steht da vorne und ihr seid die Chefs.“ Es waren aber doch die „Chefs“, die den Unterricht unerträglich machten, den Lernerfolg der SchülerInnen durch „Pauken“ gefährdeten und die Beziehungsarbeit vernachlässigten.

John Hattie wird die Politik erfreuen: Nicht die Klassenstärke oder der ganze Klimbim darum herum bestimmen maßgeblich guten Unterricht, der Lehrer wird es richten. Es liegt mal wieder an der Ausbildung (da ist was dran) und an der Fortbildung (da ist auch was dran). Aber, lieber Mr. Hattie, der Aufbau der Feedback- und Selbsteinschätzungskultur für LehrerInnen würde bedeuten, dass die Schulentwicklung von unten beginnen könnte. Und wer möchte das schon? Nicht einmal die LehrerInnen. WOLFGANG RAUCH, Kronau

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