Auf dem Zahnfleisch gehen

STRESS II Wer Alltagsdruck mit in den Schlaf nimmt, läuft Gefahr, mit den Zähnen zu knirschen. Dahinter stünde eine komplexe Erkrankung, sagen Ärzte

Zähneknirschen in der Nacht, dazu Kieferknacken, Kopfschmerzen, Tinnitus, Schwindel, Ohren- und Nackenschmerzen – etwa sieben Millionen Menschen in Deutschland bekommen die sogenannte Craniomandibuläre Dysfunktion (CMD) von ihrem Zahnarzt diagnostiziert. Das sagt Hermann Söhngen vom CMD-Dachverband. Genauso wie die Symptome seien, laut Söhngen, auch die Ursachen von CMD vielfältig. Neben Stress könnten Bissfehlstellungen, Traumata, Schlafprobleme oder Haltungsstörungen dazu führen, dass Menschen im Schlaf die Zähne aufeinanderdrücken. Auch Zahnspangen, Drogen oder eine unausgewogene Ernährung, bei der es Patienten an Vitamin D und Calcium mangelt, könnten das Krankheitsbild auslösen. Die Liste ist erweiterbar.

Es fällt auf, dass sich bei CMD immer wieder Ursache und Wirkung überschneiden. So kann beispielsweise eine Bissfehlstellung aus langjährigem Zähneknirschen folgen, genauso wie andersherum. Gerade diese Komplexität des Krankheitsbildes ist es, die CMD zur „Chamäleonkrankheit“ macht, sagt Söhngen. Das sei einer der wichtigsten Gründe dafür, dass nur circa drei Prozent der sieben Millionen in Behandlung gehen.

„Menschen rennen bis zu 15 Jahre von Therapeut zu Therapeut und bekommen keine richtige Diagnose gestellt. Ärzte verschreiben Kopfschmerztabletten und behandeln Tinnitus mit Luftdruck – ohne Erfolg“, sagt er: „Weil sie nicht sehen, dass Kopfschmerz und Tinnitus oft im symptomatischen Zusammenhang der CMD liegen.“

Bei jungen Patienten ist für die Hamburger Entwicklungstherapeutin Wibke Bein-Wierzbinzki allerdings Stress der Hauptauslöser von CMD: „Überarbeitung spielt eine sehr große Rolle“, sagt sie: „Etwa 30 bis 40 Prozent der 10- bis 16-Jährigen in Deutschland berichten über Schmerzen im Kiefer.“ Tendenz steigend. Ein Grund dafür könnte erhöhter Prüfungsdruck in Schulen sein, glaubt die Therapeutin.

Im Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen steht CMD allerdings nicht. Deren Spitzenverband GKV erklärt, man zahle nur Abhilfen gegen einzelne Symptome: Zahnschutzschienen, Entspannungskurse, Psychotherapie und so weiter. Funktionsanalytische Maßnahmen, die CMD in größeren Zusammenhang stellen, muss der Patient mit bis zu 2.000 Euro selber tragen, kritisiert Söhngen. Die Kassen bestreiten das nicht. Es gebe „wirtschaftliche Alternativen“, sagen sie.  CARSTEN BISPING