„Eine Moorleiche beflügelt die Fantasie“

Die Leiche des „Mädchen von Windeby“ war nach neusten Erkenntnissen eine Junge. Nun müssen die Geschichtsbücher umgeschrieben werden, sagt Andreas Schäfer, Stadtarchäologe in Stade. Das sei nicht ungewöhnlich. Die Interpretation der Archäologen richte sich stets nach dem Gesellschaftsbild

Interview Elke Spanner

taz: Herr Schäfer, das legendäre Mädchen von Windeby war ein junger Mann. Muss jetzt die norddeutsche Geschichte umgeschrieben werden?

Andreas Schäfer: Die Bücher über Moorleichen müssen tatsächlich überarbeitet werden, ebenso die Museumsführer und Schulbücher, in denen das Mädchen Thema war …

und die Tourismusbroschüren für Schleswig.

Mit der Geschichte um dieses Mädchen hat man viele Besucher dorthin gelockt. Vieles, was über dieses Mädchen berichtet wurde, erschien einigen Fachkollegen schon immer spekulativ.

Hätte eine männliche Leiche weniger Besucher angelockt?

Wenn man im Museum erfährt, der Fund ist ein 16-jähriger Junge, der schlichtweg verhungert oder an einer Krankheit gestorben ist, hat das wenig Aussagekraft. Um dieses Mädchen konnte man bessere Geschichten basteln. Etwa die Legende, sie sei ihrem Mann untreu gewesen und deshalb mit verbundenen Augen ins Grab gestoßen worden, wo sie im Tode noch eine vielsagende Geste gemacht haben soll.

Wie kommt es zu solchen Fehlinterpretationen?

Man darf nicht vergessen: Die Leiche ist in den 50er Jahren gefunden worden. Und Archäologie war früher oftmals tendenziös. Man hat den Gesellschaftsbegriff, den man hatte, immer auch auf die Archäologie übertragen. Und natürlich war man auch sensationslüstern. Da vermischt sich beides.

Was hat gerade in den 50er Jahren diese Mythenbildung befördert?

Ich denke, dass es in der Nachkriegszeit ein großes Bedürfnis der Menschen gegeben hat, neue Geschichten und Mythologien zu erfinden. Und eine Moorleiche kann selbstverständlich immer die Fantasie beflügeln.

Geht es auch um Romantik? Ein Forscher will mit einem Fund Geschichte schreiben?

Sicher. Und je interessanter die Legende, die man um einen Fund spinnen kann, desto relevanter erscheint dieser. Wenn man beispielsweise einen Faustkeil findet, der 20.000 Jahre alt ist, ist das nicht sonderlich spannend. Kann man dazu aber berichten, dass bei einem Eifersuchtsdrama eine Frau mit diesem Faustkeil ihren Mann erschlagen hat, werden die Leute hellhörig.

Wer spinnt solche Mythen? Die Wissenschaftler können daran doch eigentlich kein Interesse haben.

Diese Geschichte wird weniger auf die Ausgräber zurückgehen, sondern sich vor Ort entwickelt und dann verselbständigt haben. Wahrscheinlich hat bei der Grabung jemand auf die angebliche obszöne Geste hingewiesen und dahingesagt, dass die Leiche wohl eine Ehebrecherin gewesen sein muss. Das wird dann der lokalen Presse erzählt, und irgendwann ist es dann in der Welt.

Muss man archäologische Erkenntnisse immer wieder in neuem gesellschaftlichen Kontext überprüfen?

Das ist in der Tat entscheidend, und es wird auch gemacht. Vieles erklärt sich aus der Wissenschaftsgeschichte: Die Archäologie ist Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden und wurde zunächst von Privatgelehrten, Lehrern und Pastoren betrieben. Die Möglichkeit, dass Befunde wirklich sauber mit wissenschaftlichen Methoden untersucht werden können, besteht erst seit 20 oder 30 Jahren. Die Archäologie versucht seither, sich mehr als Naturwissenschaft zu definieren.

Dann werden uralte Befunde, an die man jahrzehntelang geglaubt hat, nun tatsächlich wissenschaftlich neu abgeklärt?

Ja. Erst jetzt kann man etwa mit DNA-Analysen bei Skeletten Verwandtschaftsverhältnise feststellen. Und bei diesem Jungen konnte man jetzt sogar feststellen, dass er Vegetarier war, und wie er sich ernährt hat. Die Fokussierung auf die Naturwissenschaft ist der neue Weg der Archäologie. An dieser Stelle muss ich die Archäologen von damals in Schutz nehmen: Die hatten diese Möglichkeiten noch nicht.

Gab es in jüngster Zeit in Norddeutschland vergleichbare Fälle, bei denen die Wissenschaft lange Zeit an eine falsche Geschichte geglaubt hat?

Es gab mehrere. Zum Beispiel wurde bei eisenzeitlichen Gräberfeldern im Kreis Harburg lange argumentiert, die Bestatteten könnten nur Männer gewesen sein, weil es Waffengräber waren. Dann hat man die Knochen untersucht und festgestellt, dass es sich um Frauen handelte. Das Bild der Wissenschaft ist immer auch ein Bild dessen, was sozial und gesellschaftlich gedacht wird. Und je länger die Funde zurückliegen, desto ungenauer wird es natürlich.