Tag der Wut: Dutzende Tote

PROTESTE Muslimbrüder rufen zu Massenprotesten, Armee schießt

KAIRO rtr/dpa/taz | „Es wird ohne Unterlass geschossen“, berichtet der Fotograf Mosaab Elshamy vom Ramsesplatz mitten in Ägyptens Hauptstadt. „Fürchterliches Gewehrfeuer hallt über den Platz, während Tausende die Polizeistation Azbakeya umringen. Es ist das Schlimmste, was ich je gesehen habe … Viele Tote werden weggetragen.“

Elshamy hatte am Mittwoch das Massaker am Rabaaplatz im Osten von Kairo dokumentiert, als weit über 200 Menschen der Räumung des Protestcamps der Muslimbrüder dort zum Opfer fielen. Am Freitag war er erneut Augenzeuge der Proteste am „Tag der Wut“, zu dem die Muslimbrüder aufgerufen hatten.

Der Ramsesplatz war das Ziel der Protestmärsche der Islamisten, die nach den Freitagsgebeten in allen Teilen Kairos gestartet waren. Das Militär hatte dort fünf Panzer stationiert und Plätze und Hauptstraßen in Kairo abgeriegelt. Trotzdem konnten sich mehrere zehntausend Menschen am Ramsesplatz versammeln – 20.000 nach offiziellen Angaben, bis zu 40.000 nach Schätzungen des britischen Reporters Robert Fisk.

Die Sicherheitskräfte eröffneten das Feuer, als sich Demonstranten auf die Polizeistation zubewegten. Ein Reporter des TV-Senders Al-Dschasira auf dem Platz berichtete am Nachmittag, es gebe mindestens 32 Tote allein auf dem Ramsesplatz.

Am Abend wurde inoffiziell von mindestens 51 Toten in Kairo berichtet. Am Nachmittag waren die Leichen von 13 Menschen in eine Moschee im Zentrum der Stadt gebracht worden; die Zahl stieg später auf 27. Das Gesundheitsministerium bestätigte zunächst 17 Todesfälle. Das Nachrichtenportal Al-Ahram meldete, sieben Menschen seien im Kugelhagel um die Polizeistation ums Leben gekommen.

Am frühen Abend, kurz vor Beginn der Ausgangssperre, berichteten Augenzeugen, Autos voll Bewaffneter mit schwarzen Al-Qaida-Flaggen seien dabei, auf den Platz zu fahren. In diesem schwelenden Bürgerkrieg ist nicht immer klar, wer wer ist.

Das Staatsfernsehen zeigte am frühen Nachmittag Bilder von einem angeblichen Demonstranten, der mit einem automatischen Gewehr von einer Brücke schoss. Von der 15.-Mai-Brücke schossen demnach Islamisten auf Häuser, von denen aus sie mit Steinen beworfen wurden.

Die Muslimbrüder machten klar, dass sie keine Kontrolle über möglicherweise bewaffnete Demonstranten hätten. „Nach den Räumungen, Verhaftungen und Morden, die wir zurzeit erleben, kochen die Emotionen zu sehr hoch, um sie noch lenken zu können“, sagte ihr Sprecher Gehad al-Haddad. Trotz Trauer und Schmerz über die Toten, der Wille, dem Militär Einhalt zu gebieten, sei stärker. Die Muslimbrüder verlangen den Rücktritt von Armeechef Abdel Fattah al-Sisi und die Wiedereinsetzung des von der Armee Anfang Juli abgesetzten gewählten Präsidenten Mohammed Mursi. Augenzeugen fiel jedoch auf, dass anders als früher keine Mursi-Plakate mehr auf den Demonstrationen zu sehen waren.

Auch aus anderen ägyptischen Städten wurden im Laufe des Tages Todesfälle und Straßenkämpfe gemeldet. In der Stadt Ismailia im Nildelta kamen nach Angaben aus Krankenhäusern am Freitag vier Teilnehmer einer Kundgebung ums Leben. Zusammenstöße wurden auch aus der zweitgrößten ägyptischen Stadt Alexandria und aus Tanta gemeldet. Bei Zusammenstößen in der Stadt Fajum kamen laut einem Krankenhausmitarbeiter fünf Menschen ums Leben. Zehn Menschen starben, als sich die Polizei in der Provinz Kafr al-Scheich Islamisten entgegenstellte, die versuchten, das Gouverneursgebäude und eine Polizeistation zu stürmen. D.J.