AUSGEHEN UND RUMSTEHENZWISCHEN KURZEN HOSEN UND GRILLSCHWADEN, STURMWINDEN UND HEIZPILZEN: FEIERWÜTIGE DEM WETTER ENTFREMDET – ABER DIE GUTEN NACHTASYLE SIND RAR GESÄT
: Noch heute bringst du mich zum Tanzen

VON KIRSTEN RIESSELMANN

Es kam zu unvermittelt. Plötzlich staksten am Freitag temporär residente US-Amerikanerinnen und Ich-komm-aus-Kreuzberg-Muschis in kurzen Hosen und mit entsetzlich braunen Beinen über den noch nicht weggeräumten Rollsplitt. Das erste Outdoor-Halloumi-Sandwich in mich hineinstopfend, schlug die Freude über die Wärme prompt in Missgelauntheit um: Das über den Winter erfolgreich Verdrängte – Millionen andere Stadtbewohner, die beim ersten Sonnenstrahl sofort Frisbees, Bongos und Grills auspacken, es sich gutgehen lassen und ihre Freizeit optimal zu nutzen wissen – kehrte zurück. Am liebsten hätte ich mich bei 21 Grad mit einem Buch im Bett verkrochen.

Aber dann kam am Abend ein schön bösartiger Wind auf, der die Heerscharen vom Trottoir blies und bei mir die Ausgehlüste wieder weckte. Die Karl-Marx-Allee lag verlassen, in der sich angenehm langsam füllenden Freitagsküche wurde Sekt-Sanostol angeboten. Meine Erfahrung mit Medizin-Mixgetränken beschränkt sich auf eine Party mit Klosterfrau-Melissengeist-O und war beunruhigend genug, um die Jungkünstlerinnen in der Freitagsküche um andere Getränkeoptionen zu bitten. Alles wurde gut.

Man trank Sekt-Aperol, aß Tofu-Sandwiches, die DJ bediente ihren Laptop auf zwei gestapelten Bionade-Kästen stehend, gelegentlich sprang jemand hoch und schubste die unmotorisierte Diskokugel an. Als „Easy“ von Faith No More lief, ging draußen vor den Panoramafenstern ein reinigender Platzregen nieder.

Wir redeten über die Prekarität des Weltzustands (Kontinentalverschiebung) und über Familie. Dass ich jüngst ein Foto von Großonkel Heinrich aus dem Oldenburgischen entdeckt habe, wie er in Wehrmachtsuniform vor dem Brandenburger Tor Wache schiebt, war aber nicht ganz so interessant wie D.s Geschichte von Oma Ruth, die in Friedrichshain eine Drogerie hatte, 1938 nach Chile exilierte und später dann die vor der Pinochet-Diktatur geflohene Familie des Sohnes wieder in Deutschland besuchen kommen musste.

Als wir die Freitagsküche verließen, war die Temperatur um 13 Grad gefallen. Am Samstag sah sich die Rumpftruppe einer ehemaligen Israel-Reisegruppe den sehr amüsanten Film über die Grabeskirche in Jerusalem an. So zum Spaß setzten wir uns hinterher unter einen Heizpilz am Hackeschen Markt. Kleine Sünden aber bestraft der liebe Klimagott sofort. Wir wurden nicht bedient und suchten Zuflucht im Café Cinema, das sich zwischen Starbucks und Hofpfisterei immer noch mit sympathisch proportionierten Nüsschenschüsseln behauptet.

Um das Ende ihres Gastspiels als Peaches Christ Superstar zu feiern, hatte sich die Künstlerin die Bar des schauderhaften Hotel Lux auf der Rosa-Luxemburg-Straße ausgesucht. Kein Wunder, dass ihren Tänzern nichts anderes einfiel, als sich schweigend auf den Kunstledersofas im Arm zu halten. Schnell weiter in die Sophiensaele, wo Jacques Palminger im Anschluss an sein Stück „Die Insel“ ebenfalls feierte. Dass alternde Subkulturgrößen sämtlich zu Theatermachern werden, habe ich mittlerweile wohlwollend akzeptiert.

Viktor Marek jedenfalls legte schöne, seelenvolle Musik auf, etwa Die Vögel auf DJ Kozes neuem Label Pampa. Fast wäre ich zu ihm gegangen und hätte gesagt: Du hast mir vor 15 Jahren im Hamburger Pudel Club das erste Astra meines Lebens verkauft und noch heute bringst du mich zum Tanzen, ich danke dir dafür. Das habe ich dann nicht getan und ärgere mich jetzt.

Der Sonntag wurde dem Entsorgen von Zeitungsbergen und dem Staubsaugen gewidmet, um danach mal wieder ein Barfuß-Home-Dancing zum Wochenendausklang veranstalten zu können. Das neue Goldfrapp-Album eignet sich zu diesem Zweck sehr gut.