ADRIENNE WOLTERSDORF über OVERSEAS
: Hier lebt die Revolution!

Der totgeglaubte Sozialismus hat überlebt – als Einwanderer in den USA

Glauben Sie bloß nicht, der Sozialismus sei tot. Aus meiner neuen Heimat, den USA, kann ich berichten, dass er es irgendwie geschafft hat, vielleicht als blinder Passagier, hier munter zu überleben. Er lebt, und zwar mit der ganzen Entschlossenheit, die Migranten mit sich bringen. Oder, andere Theorie, er war immer schon hier, nur hat ihn niemand bemerkt, solange es das Original noch gab. Wie fidel er ist, konnten wir neulich ausgerechnet in New Orleans erleben.

Hungrig, nachdem der Liebste und ich stundenlang durch die „Katrina“-Trümmer gestapft waren, fuhren wir in die unversehrte Innenstadt und landeten in einem rustikalen Shrimps-Lokal. Wir suchten uns einen Tisch in der Sonne und wollten gerade entspannt die Karte studieren. Plötzlich fährt eine Kellnerin uns an: „Sehen sie nicht das Schild hier: ‚Warten Sie, bis Sie platziert werden‘ “ – „Ja, aber …“, wagen wir zu sagen, das Lokal sei doch menschenleer. Das hieße aber nicht, dass man sich einfach so hinsetzen könne, sagt die junge Frau entschlossen. Wir mussten also wieder aufstehen, uns an der Wandseite des Lokals hinter eine Schranke begeben, in den Toilettenflur hineingehen, unsere Tabletts, Servietten, Plastikbesteck und Papiersets einsammeln. An der nächsten Schranke erwartete uns die Genossin, um uns dann an den Tisch zu geleiten, an dem wir eben schon mal gesessen hatten. Die Kellnerin hieß nicht Ludmilla oder Wangxin, aber sie hätte damals, in Moskau oder Peking, ihrem Kollektiv viel Freude bereitet.

Dort wie hier wird sie als Angehörige der Arbeiterklasse ausgebeutet, obwohl doch bekanntlich Markt und Sozialismus alles regeln. Beide denken nicht daran, also geben wir Ludmilla/Wangxin trotzdem ein ordentliches Trinkgeld, was hier anstandsweise zwanzig Prozent der Rechnung ausmacht. In anderer Weise feiert die maoistische Organisationsform der „Einheit“ ein ungeahntes Comeback in Amerika. Denn, ebenso wie in der Volksrepublik, leben auch Bürger der Neuen Welt in unerschütterlicher Verbundenheit zu ihrer „Einheit“.

Mein Freund Alex zum Beispiel. Als Student in Portland, Oregon, dem Bundesstaat, in dem junge Menschen auf alten Bäumen leben, damit sie nicht gefällt werden, warf er sich in die Arme seiner Alma Mater. Krankenversicherung, Rentenplan, Bankkonto, Kreditkarte. Alles regelt seine Uni. Auch heute noch, obwohl er seit fast zehn Jahren ihrer Umarmung entwachsen ist. Längst macht Alex als Rechtsanwalt im Eisenbahnministerium (ja, so was gibt’s) in Washington Karriere. Doch seine Nabelschnur nach Portland ist nicht zu kappen. Alex kann nicht mehr aussteigen, denn so ein soziales Rundumpaket bekommt nur, wer sich ihm ganz früh verschrieben hat. Neben dem Zustand des Straßenbelags, der in Detroit so viele Löcher aufweist wie in Wolgograd, ist es ein weiteres Phänomen, dass sich amerikanische Gesetze oft anhören, als hätte sie der chinesische Volkskongress verabschiedet. „Kein Kind wird zurückgelassen“, heißt die jüngste US-Bildungsoffensive. Und Umweltpolitik wird in Peking wie in Washington unter dem offiziellen Namen „Klarer Himmel“ gemacht. Peking war bislang ein bisschen erfolgreicher. Alles klar? Zu guter Letzt muss ich noch auf die hüben wie drüben anzutreffende Begeisterung für staatlich produzierte HeldInnen aller Art kommen. In den USA wurde kurz nach Beginn des Irakkriegs die Soldatin Jessica Lynch bei einem Humvee-Unfall verletzt, dann von Irakis entführt, später aber auch wieder den Amis übergeben, die sie trotzdem befreiten. Die 19-jährige Lynch war über Wochen Schlagzeilenstar, ein Film wurde über sie gedreht, ein Buch geschrieben.

Lei Feng heißt ihr Pendant in China. Ein einfacher Held der Arbeit, der einen Jungen vor dem Ertrinken gerettet haben soll. Lei Fengs Heldentaten sind in China jedem Kind bekannt – obwohl an dem Guten so viel Wahres dran sein soll wie an Lynchs heldenhafter Befreiung durch die US-Armee. Egal: Kapitalismus und Sozialismus haben verstanden. Eine Gesellschaft ohne HeldInnen ist eben nur eine fade soziale Marktwirtschaft.

Fotohinweis: ADRIENNE WOLTERSDORF OVERSEAS Fragen an die Genossin? kolumne@taz.de Morgen: Bettina Gaus über FERNSEHEN