Wirbellose hauen übern Pudding

Zwei neue Berliner Zeitschriften neben dem Markt: „Tortour“ und „Floppy myriapoda“ verstehen sich politisch, weil ihre weit gereisten Macher zur Selbstausbeutung neigen, und geizen auch ansonsten nicht mit kurzen Gedanken und kleinen Ideen

VON HELMUT HÖGE

Die Printmedien stehen unter starkem Druck, sich umzuprofilieren. Zum einen wegen der „strukturellen Krise“, die sich laut Robert Kurz sogar noch „zuspitzt“ und einen weiteren Rückgang der Anzeigen bewirkt. Zum anderen durch das Privatfernsehen und das Internet, wo die Schnelligkeit der Nachrichtenverarbeitung (und -löschung) die Möglichkeiten gedruckter Zeitungen immer mehr übersteigt.

In dieser Situation kommt neuen Printmedien eine gewisse Pionierfunktion zu. Aus dem Kreis der eingestellten FAZ-Berlinseiten haben sich in der letzten Zeit etliche neue „Blattmacher“ herausgeschält, deren Produkte – Monopol, Der Freund etc. – an ausgewählten Kiosken zu haben sind, während die nach der Wende zunächst boomenden Obdachlosenblätter langsam, aber sicher seltener werden. Daneben entstanden und entstehen jedoch auch tatsächlich immer noch neue politische Periodika – wenn schon nicht vom Inhalt her politisch, so doch von der Herstellung: sich selbst ausbeutende so genannte Kollektive, in der die Arbeitsteilung zwischen Autor, Redakteur und Vertrieb aufgehoben ist und wieder das alte linke Prinzip gilt: „Wer schreibt, der zahlt.“

Der einmal von Thomas Kapielsky als „charmant unkäufliche Zeitschrift“ bezeichnete Gegner des aus dem Neuen Forum hervorgegangenen Basisdruck-Verlags ist darüber schon fast zu einem Jahresheft geworden. Das war einigen seiner Autoren aber dann doch zu selten – und so haben nun sowohl Bert Papenfuß und Norbert Knofo Kröcher als auch Alexander Krohn und Kai Pohl neue Zeitschriften herausgegeben.

Beide Projekte lehnen sich gegen die konzeptionelle Strenge des Gegner auf: Papenfuß und Knofo haben das Revolverblatt Tortour entwickelt – der Name spielt auf die Torstraße an, wo Papenfuß Mitbesitzer des Kaffee Burger ist und nebenan der Club der polnischen Versager permanent tagt. Und Krohn und Pohl schufen sich ein „Subkommando für die freie Assoziation“ mit dem Namen Floppy myriapoda.

Der Name hat eine recht einfache Entstehungsgeschichte: Kai Pohl, Lyriker und bildender Künstler, hat einmal einen Hightech-Tausendfüßler (myriapoda) gebastelt – der derzeit in der Kreuzberger Galerie K. ausgestellt ist. Alexander Krohn dagegen ist Musiker: 1987 spielte er als Schüler in der Punkband Background, bekam keinen Studienplatz und wurde Hilfslaborant im VEB Dienstleistungen. Ab 1992 war er sechs Jahre lang Sänger der Band Britannia Theater. Danach begleitete er seine Freundin Evi, die an der Humboldt-Universität Asienwissenschaften studierte, auf ihren Exkursionen. In Laos und Amman ließ er seine ersten selbst verlegten Bücher drucken: Ernst Fuhrmann, Jes Petersen, Hugo Velarde und andere, die auch im Gegner veröffentlicht werden.

Krohn schreibt selbst seit 2001 Gedichte, daneben bestückte er gerade zusammen mit Kai Pohl zwei Ausstellungen über „postrealen Brutalismus“ und forcierte außerdem seine Repolitisierung: Die Nachwendelinke hat ihn, so sagt er, „mit ihrem PC-Kram zunächst abgestoßen“, aber der „Gegner-Kreis“ verschaffte ihm dann einen neuen Zugang – zum Widerstand.

Mit Beginn des Irakkriegs 2003 flogen er und seine Freundin erneut nach Amman, wo sie eher unfreiwillig im Basislager der „Human Shields“ landeten. Im darauf folgenden Jahr tourte er mit vier Musikern unter dem Namen Aktion Kohlenberta durch den Nahen Osten, trat in Bethlehem, Ramallah, Damaskus, Beirut und Amman auf und schrieb mit „Blaue Jeans grün“ und „Die Rote Käthe“ seine ersten beiden Gedichtbände voll.

Es gibt immer mal wieder Zeiten, da erscheinen gleich mehrere nicht- oder antiprofessionelle Periodika auf einmal. In den Achtzigerjahren geschah dies zum Beispiel in Frankfurt/Main, wo einige Künstler Periodika mit Titeln wie D’Fanatik, Der Neger und Babel herausgaben. Letztere gibt es wunderbarerweise noch immer und dürfte die derzeit radikalste Fotozeitschrift sein.

Jetzt aber zu Tortour und Floppy myriapoda: Sie sind ganz klar Ostprodukte. Erstere diskutiert unter anderem „Fickprobleme“ und haut überhaupt gerne pornografisch über den Pudding. So wird zum Beispiel von den sexuellen Erfahrungen von „Phytophilen“ (Pflanzenliebhabern) erzählt – vor dem Hintergrund der seriellen Endosymbiontentheorie von US-Zellbiologen. Ansonsten wird dem Satan der Revolte, dem Teufel im Leib und sich selbst für die überflüssige Mühe und das rausgeschmissene Geld gedankt. In der Floppy wird eher poetisch über die Stränge geschlagen und die Differenz zwischen Ost- und Westtausendfüßlern diskutiert: Hier heißen sie Diplopoda, dort Myriapoda – höchstens 374 Beinpaare haben die wirbellosen Viecher aber hüben wie drüben.

Beide Zeitschriften geizen nicht mit kurzen Gedanken und kleinen Ideen, die wie zwischengestreut wirken. Ihre Herausgeber scheinen das beherzigen zu wollen, was schon die alten Situationisten zu bedenken gaben: „Um schreiben zu können, muss man gelesen haben, und um lesen zu können, muss man zu leben verstehen. Sonst kommt man nur dahin, die abstrakten Forderungen seiner abstrakten Existenz endlos zu wiederholen!“ Und so wird der abstrakt arbeitende Autor auf ein Neues liquidiert – sonst hätten die Leser auch bald nichts mehr zu lachen!

„Floppy myriapoda – Subkommando für freie Assoziation“ ist zu bestellen unter subkommando.pappelschnee.de„Tortour – Das neueste Revolverblatt für die Torstraße“ gibt es im Handverkauf und liegt im Kaffee Burger aus