Für eine Lesart der Sinnlichkeit

Intellektueller Genießer verkostet exklusiv für Die Wahrheit die leckersten Städtenamen

„Verwelkte wilde Rosen. Delikat. Komplex, dicht, satt und rund am Gaumen“

Karl Heinz Bohrer, Buchautor und Mitherausgeber der Zeitschrift Merkur, kann nach Informationen der Süddeutschen Zeitung (13. 3. 06) die Namen von Städten schmecken. Er lasse sich „eine ganze geistige Topographie auf der Zunge zergehen wie ein Weinkenner einen guten Tropfen“, konnte Ijoma Mangold, Kulturredakteur der SZ und selbst Weinkenner, bei einem Treffen mit dem Gelehrten an dessen Wohnsitz in einem nicht ungefährlichen Londoner Außenbezirk feststellen. Bohrer, „vielleicht der einzige bedeutende Physiognomiker unter den Intellektuellen Deutschlands“, praktiziere „hingebungsvoll“ das Aussprechen der Namen von Städten und Stadtteilen. Wir wollten das noch genauer wissen und baten Herrn Bohrer, einige Städtenamen für uns zu verkosten.

taz: Herr Bohrer, fangen wir gleich mit etwas Kräftigem an?

Karl Heinz Bohrer: Aber ja. Sehr gern.

Also: Madrid.

Madrid. Hhm. Madrid. Madrid. (Er spricht den Namen sehr spanisch aus, genießt ihn sichtlich.) Imposantes Bukett. Fleischiger Geschmack mit Nerv. Im Barrique ausgebaut, natürlich. Viel Körper, Tannin und Kraft. Trocken. Kräftige Holznoten. Ich schmecke Kakao, Lakritze, Nelken, schwarzen Pfeffer, Wacholder, geräucherte Wurst. Dicht gewebter Stoff, vielschichtig, mit Nachdruck und Rasse. Im Abgang gebratene Stierhoden.

Ola. Das ist ja allerhand. Wollen wir gleich mit Rom weitermachen?

Mit Vergnügen. Rom, Rom, Roooom. (Er wiegt bedächtig den Kopf.) Rohohooom. Intensiv in der Nase. Betörende Fülle in Duft und Körper. (Er zeigt Zeichen der Ekstase.) Verschwenderische Aromen. Brombeere, Heidelbeere, Holunder. Verwelkte wilde Rosen. Delikat. Komplex, dicht, satt und rund am Gaumen. Saftig. Reife Frucht. Anhaltendes Finale. Viel Kraft für die Zukunft. Der Barolo unter den Städtenamen.

Was Sie nicht sagen. Wie wäre es jetzt mit London?

London, London, London. Sehr würziges Aromenbild von Veilchen über Lilien zu getrockneten Feigen. Leder. Viel kernige Tannine. Nicht ganz durchgentrifiziert. Etwas rau. Am Gaumen brüllende Gemeinheit. Aber Kühnheit, Männlichkeit. Viel Zukunft.

Und jetzt wollen wir uns bitte mutig an Paris heranwagen.

Paris (stark näselnd französisch), Pari, Pari, mäh wi. Moussiert angenehm. Feiner, flauschiger Schaum mit animierender Säure. Dezente, dennoch vielschichtige Aromen, Birnen und Pfirsiche über Teerosen und Weißdorn. Frisches Heu. Trüffel. Austern. Muschi.

Wie bitte?

Delikat. Mit leichten Kupfernuancen. An den Rändern leider etwas gesindelig. Trotzdem eleganter Nachklang.

Na schön, jetzt aber mal zu den deutschen Städten.

Deutschland kann ich generell kaum ertragen. Moralinsäure, staubige Kerzenhalter. Tartüffelig. (Er stöhnt auf.) Furchtbar. Schrecklich. Entsetzlich.

Trotzdem. Probieren wir’s mal mit München?

Nun gut, meinetwegen. München, München. (Er mümmelt ein wenig vor sich hin. Dann hellt sich seine Miene auf.) Ich schmecke viel frisches Heu. Pomeranzen. Hagebutte, Stachelbeere, Passionsfrucht, Mango und Aprikose. Am Gaumen fleischig, körperreich. Weißwurst, Gelbwurst, Leberkäs’. Rund und harmonisch im Gesamtbild. Viel Eleganz. Bisschen hopfig. Etwas Restsüße.

Oha. Gehen wir schnell zu Köln weiter?

Köln, ja Köln (in Kölschen Singsang fallend), Köllln, Köllllln. Geschmeidig, kraftvoll, warm und weich im Mund. Süßholz. Buttrige Vanille. Wilde, vielschichtige Frucht mit animalischer, fleischiger Richtung. Angenehm leichtfüßiger Körper. Haftet dicht und lang am Gaumen. Pfiffige Säure. (Er sucht längere Zeit nach einem Wort. Dann, plötzlich die Erleuchtung): Unverkniffenheit.

Hamburg?

Hamburg. (Jetzt hanseatisch) Hamburch, Hamburch. Im Vordergrund Ginster und Heidekraut. Viel Schmelz, geballte Frische. Zarte, vegetale Aromatik, sehr körperreich, eindrucksvoller Abgang. Tomaten, Moos, Ketchup. Schön viel Moos. Heringe. Wundervolle Länge. In wenigen Jahren ideal.

So, und zum Schluss noch Berlin, bitte.

Berlin (mümmelt). Balin, Balin. Da bin ich nicht so begeistert. Vordergründig prächtig. Aber grober Verschnitt.

Das heißt?

Verschiedenstes Zeug durcheinander gepanscht. Nicht gerade subtil. Am Gaumen bloß kribbelig, ohne Geschmeidigkeit und Fülle. Fleischiger, leicht verdorbener Geschmack. Currywurst, Bulette, Döner. Und natürlich staubige Kerzenhalter. Wohl in rostigem Blech ausgebaut. Im Abgang … (verzieht angewidert das Gesicht und stöhnt auf) Furchtbar!

Was denn? Was ist denn im Abgang so furchtbar?

Hundescheiße.

Herr Bohrer, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

INTERVIEW: FLORIAN WOLFRUM