„Keine der beiden Seiten kann gewinnen“

ETHNISCHE SPANNUNGEN Der Tschetschenien-Konflikt ist für Russland systemkonstituierend, sagt der russische Historiker und Ethnologe Dmitri Dubrowski

■ Der 40-Jährige ist studierter Historiker und Ethnologe. Seit 2008 ist er leitender wissenschaftlicher Mitarbeiter am Russischen Ethnografischen Museum in St. Petersburg. Zwei seiner Arbeitsschwerpunkte sind Menschenrechte sowie interkulturelle Beziehungen.

taz: Herr Dubrowski, nach offizieller Lesart sind tschetschenische Rebellen für die beiden Anschläge in der Moskauer U-Bahn verantwortlich. Wie könnte sich das auf das Klima zwischen den verschiedenen Nationalitäten in Russland auswirken?

Dmitri Dubrowski: In unserem Land werden nichtethnische Russen schon lange nicht mehr als Staatsbürger anerkannt. In vielen Regionen des Landes hängt ihnen die Miliz einen Verstoß gegen die Migrationsgesetze an und überprüft auf der Straße ihre Dokumente. So als ob sie Bürger eines fremden Staates oder zweiter Klasse seien. Ich kann auch noch weitere Beispiele für Rassismus ihnen gegenüber nennen. Alle meine Studenten aus dem Kaukasus wurden, bevor sie an der Universität aufgenommen wurden, aufgefordert, einen Fragebogen auszufüllen, in dem sie einzeln auf eine Zugehörigkeit zu terroristischen Gruppen im Nordkaukasus überprüft wurden.

Aber die russische Regierung betont doch immer gern, dass Russland ein multiethnischer Staat ist und es darum geht, die gegenseitigen Beziehungen zu harmonisieren.

Das stimmt, doch leider gilt das nicht, wenn eine Gruppe von Bürgern in Ruhe gelassen wird, andere Gruppen jedoch permanent nachweisen müssen, dass sie nicht gefährlich sind. Ich halte das für eine Diskriminierung. Und trotzdem stimmen alle das Hohelied der internationalen Freundschaft an. Das ist dieses doppelbödige Denken sowjetischen Stils. Bei den Rechtsorganen gibt es seit langem einen speziellen Ausdruck: „Personen kaukasischer Nationalität“ (LKN). Unbestätigten Angaben zufolge werden in den Regionen, die an die russischen Territorien grenzen, spezielle Berichte über Frauen kaukasischer Nationalität erstellt, die sich auf dem Gebiet dieser Region bewegen. Anders ist die Miliz, die noch aus dem Sowjetsystem stammt, nicht in der Lage, gegen Verbrechen zu kämpfen.

Warum schweigt die Gesellschaft und unternimmt nichts dagegen?

In Russland gibt es in diesen Fragen leider einen Konsens. Die Staatsmacht demonstriert der Bevölkerung, dass sie angeblich alles tut, um die Gesellschaft vor Terrorakten zu schützen. Und die Gesellschaft stimmt der Miliz zu, dass an allem die sogenannten Personen kaukasischer Nationalität schuld sind. Was nun den Terrorrismus anbelangt, so braucht die Gesellschaft, um mit diesem Problem fertig zu werden, ein hohes Maß an Vertrauen. Bei uns jedoch geht das Vertrauen gegenüber der Staatsmacht in den meisten Fällen gen null. Jüngsten Umfragen zufolge genießen Miliz und politische Parteien das geringste Vertrauen. Dieses nicht vorhandene Vertrauen vergiftet sogar die nachbarschaftlichen Beziehungen in einem Haus. Jeder läuft mit geballter Faust in der Tasche herum. Der gegenwärtige „Kampf“ gegen den Terrorismus, so wie ihn der Kreml bezeichnet, ist ein Mix zwischen ethnischer Diskriminierung und dem angeblichen Kampf gegen Terrorismus.

Was könnten Ihrer Meinung nach mögliche Folgen der Anschläge sein?

Die Staatsmacht lässt keine Gelegenheit zur Einschränkung von Bürger- und Freiheitsrechten aus. Was ich mit Sicherheit sagen kann, ist, dass diese Anschläge zwangsläufig dafür benutzt werden, um Protestaktionen von Oppositionellen zu verhindern. Ich denke, dass ein Moratorium über alle Demonstrationen und Versammlungen verhängt werden könnte. Oder es werden die Regeln, um Versammlungen abzuhalten, massiv verschärft und Verstöße bestraft. Begründet wird das dann mit Bedenken wegen der Sicherheit der Bürger. Nach dem Anschlag in Beslan 2004 wurden die Gouverneurswahlen abgeschafft. Das ist eben die Logik: Nach jedem Anschlag müssen Rechte und Freiheiten eingeschränkt werden, die, angeblich, den Terroristen in die Hände spielen.

Ein russischer Politiker hat die derzeitige Situation mit einem Schachspiel verglichen. Jede Seite ist abwechselnd am Zug. Die Terroristen haben die Anschläge in der U-Bahn verübt, jetzt muss die russische Staatsmacht antworten.

Ich glaube, dass sich die Situation nicht grundlegend verändern wird. Die Terroristen haben nicht die Kraft für seriöse Anschläge, und die Macht ist gefangen in einer fehlenden Kooperation mit der Zivilgesellschaft und einem sowjetischen Ansatz beim Kampf gegen den Terrorismus. Keine der beiden Seiten kann gewinnen. Mir scheint, dass wir bereits die Zone eines „blutigen Gleichgewichts“ betreten haben. Diese Situation kann dauern.

Die Staatsmacht lässt keine Gelegenheit zur Einschränkung von Freiheitsrechten aus

Sehen Sie einen Ausweg aus der gegenwärtigen Situation?

Man muss verstehen, dass der tschetschenische Konflikt systemkonstituierend für die politischen Machthaber in Russland ist. Putins Einzug in den Kreml war das Ergebnis dessen, dass er irgendwie das tschetschenische Problem gelöst, irgendwie einen siegreichen Krieg geführt und irgendwie die Terroristen besiegt hatte. Man muss laut und deutlich sagen, dass das alles ein Weg ins Nirgendwo, in eine blutige Sackgasse war. Das Ergebnis ist, dass auf beiden Seiten viele Menschen gestorben sind und im Herzen Russlands erneut Terroranschläge verübt werden. Alles das ist mit dem Beginn der Ära Putin verbunden. Damit das endlich aufhört, muss Putin abtreten. INTERVIEW: VALERI NETSCHAJ

Aus dem Russischen von Barbara Oertel